"wäre verlohren, gänzlich verlohren, sagte sie. "Hierauf schrieb sie noch drey Stunden fort. "Weil sie nach diesem schläfrig ward: so schlum- "merte sie ein wenig in einem Lehnstuhl. Als sie "wieder erwachte: befahl sie dem Kutscher, sie "sehr leise wieder nach London, und zu dem Hau- "se einer Freundinn von Fr. Lovick, welche sie, "der Abrede nach, daselbst antraf, zu fahren. "Weil sie sich aber äußerst übel befand: so woll- "te sie es wagen, bey später Zeit zu Hause zurück- "zukehren; ob sie gleich von der Witwe gehöret, "daß ihr da gewesen waret, und Ursache hatte, "über eure Aufführung bestürzt zu seyn. Sie "sagte, sie fände, daß kein Mittel übrig wäre, euch "zu entgehen: sie besorgte, daß sie nicht viele "Stunden mehr leben würde, und es wäre nicht "unmöglich, daß der Stoß, den ihr der Anblick "von euch geben müßte, ihr Schicksal in eurer Ge- "genwart entscheiden sollte.
"Sie ging also zu Hause. Sie hörte die Er- "zählung von euren erstaunlichen Ausschweifun- "gen, mit oft aufgehabenen Händen und Augen. "Aergerlicher Mensch! Unbesserlicher Bösewicht! "Wird ihn nichts ernsthaft machen! waren die "Worte, welche sie bisweilen einfließen ließ. Weil "ihr nun eine Zusammenkunft mit einem so ver- "härteten Menschen unerträglich war: so nahm "sie des andern Morgens frühe ihre gewöhnliche "Sänfte und ließ sich an die Treppe bey dem Ge- "bäude der Tempelherren tragen, wohin sie ihrer "Wärterinn vorauszugehen befohlen hatte, um
"ein
„waͤre verlohren, gaͤnzlich verlohren, ſagte ſie. „Hierauf ſchrieb ſie noch drey Stunden fort. „Weil ſie nach dieſem ſchlaͤfrig ward: ſo ſchlum- „merte ſie ein wenig in einem Lehnſtuhl. Als ſie „wieder erwachte: befahl ſie dem Kutſcher, ſie „ſehr leiſe wieder nach London, und zu dem Hau- „ſe einer Freundinn von Fr. Lovick, welche ſie, „der Abrede nach, daſelbſt antraf, zu fahren. „Weil ſie ſich aber aͤußerſt uͤbel befand: ſo woll- „te ſie es wagen, bey ſpaͤter Zeit zu Hauſe zuruͤck- „zukehren; ob ſie gleich von der Witwe gehoͤret, „daß ihr da geweſen waret, und Urſache hatte, „uͤber eure Auffuͤhrung beſtuͤrzt zu ſeyn. Sie „ſagte, ſie faͤnde, daß kein Mittel uͤbrig waͤre, euch „zu entgehen: ſie beſorgte, daß ſie nicht viele „Stunden mehr leben wuͤrde, und es waͤre nicht „unmoͤglich, daß der Stoß, den ihr der Anblick „von euch geben muͤßte, ihr Schickſal in eurer Ge- „genwart entſcheiden ſollte.
„Sie ging alſo zu Hauſe. Sie hoͤrte die Er- „zaͤhlung von euren erſtaunlichen Ausſchweifun- „gen, mit oft aufgehabenen Haͤnden und Augen. „Aergerlicher Menſch! Unbeſſerlicher Boͤſewicht! „Wird ihn nichts ernſthaft machen! waren die „Worte, welche ſie bisweilen einfließen ließ. Weil „ihr nun eine Zuſammenkunft mit einem ſo ver- „haͤrteten Menſchen unertraͤglich war: ſo nahm „ſie des andern Morgens fruͤhe ihre gewoͤhnliche „Saͤnfte und ließ ſich an die Treppe bey dem Ge- „baͤude der Tempelherren tragen, wohin ſie ihrer „Waͤrterinn vorauszugehen befohlen hatte, um
„ein
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„waͤre verlohren, gaͤnzlich verlohren, ſagte ſie.
„Hierauf ſchrieb ſie noch drey Stunden fort.
„Weil ſie nach dieſem ſchlaͤfrig ward: ſo ſchlum-
„merte ſie ein wenig in einem Lehnſtuhl. Als ſie
„wieder erwachte: befahl ſie dem Kutſcher, ſie
„ſehr leiſe wieder nach London, und zu dem Hau-
„ſe einer Freundinn von Fr. Lovick, welche ſie,
„der Abrede nach, daſelbſt antraf, zu fahren.
„Weil ſie ſich aber aͤußerſt uͤbel befand: ſo woll-
„te ſie es wagen, bey ſpaͤter Zeit zu Hauſe zuruͤck-
„zukehren; ob ſie gleich von der Witwe gehoͤret,
„daß ihr da geweſen waret, und Urſache hatte,
„uͤber eure Auffuͤhrung beſtuͤrzt zu ſeyn. Sie
„ſagte, ſie faͤnde, daß kein Mittel uͤbrig waͤre, euch
„zu entgehen: ſie beſorgte, daß ſie nicht viele
„Stunden mehr leben wuͤrde, und es waͤre nicht
„unmoͤglich, daß der Stoß, den ihr der Anblick
„von euch geben muͤßte, ihr Schickſal in eurer Ge-
„genwart entſcheiden ſollte.
„Sie ging alſo zu Hauſe. Sie hoͤrte die Er-
„zaͤhlung von euren erſtaunlichen Ausſchweifun-
„gen, mit oft aufgehabenen Haͤnden und Augen.
„Aergerlicher Menſch! Unbeſſerlicher Boͤſewicht!
„Wird ihn nichts ernſthaft machen! waren die
„Worte, welche ſie bisweilen einfließen ließ. Weil
„ihr nun eine Zuſammenkunft mit einem ſo ver-
„haͤrteten Menſchen unertraͤglich war: ſo nahm
„ſie des andern Morgens fruͤhe ihre gewoͤhnliche
„Saͤnfte und ließ ſich an die Treppe bey dem Ge-
„baͤude der Tempelherren tragen, wohin ſie ihrer
„Waͤrterinn vorauszugehen befohlen hatte, um
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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