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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
müssen wir davon absehen, unserer Betrachtung der mykenischen Kunst-
denkmäler, oder, genauer gesagt, das an denselben zu Tage tretenden
Pflanzenornaments einen bestimmten ethnographischen Ausgangspunkt
zu Grunde zu legen. Wir wollen versuchen diese Kunst ausschliesslich
von denjenigen Gesichtspunkten aus zu charakterisiren, die uns im Zu-
sammenhange der gestellten Aufgabe interessiren; vielleicht wird sich
uns daraus umgekehrt die Möglichkeit ergeben, auf die ethnographische
Frage Rückschlüsse zu ziehen.

Eine Charakterisirung der mykenischen Kunst nach allen ihren
Seiten hin ist bisher nicht geliefert, ja nicht einmal versucht worden.
Die Ursache hiefür liegt zweifellos darin, dass bei der Betrachtung der
bezüglichen Denkmäler neben vielem Bekannten manches Fremdartige
aufstösst, dessen Einreihung in die hergebrachte Schablone des orien-
talischen Ursprungs nicht recht gelingen will, und das anderseits auch
mit späterer hellenischer Weise keinen augenfälligen Zusammenhang
aufweist. Aus verschiedenen Gründen glaubt man ein hohes Alter für
die Blüthezeit dieser Kunst, jedenfalls mehrere Jahrhunderte vor dem
Jahre Eintausend annehmen zu sollen; damit lassen sich wiederum
Funde von so vorgeschrittener technischer und künstlerischer Be-
schaffenheit, wie etwa der Becher von Vaphio, anscheinend schwer ver-
einbaren.

Goodyear allerdings trägt auch hinsichtlich der mykenischen Kunst
keine Bedenken, sie durchaus egyptischem Ursprunge zuzuweisen1a).
Von den ornamentalen Motiven der mykenischen Kunst lässt er nur
dem Tintenfisch eine selbständige, von Egypten unabhängige Bedeutung
zukommen, und selbst diese eine Ausnahme scheint ihm an Werth sehr
viel eingebüsst zu haben, seitdem zwei mykenische Vasen mit Tinten-
fischen auf egyptischem Boden gefunden worden sind. Nun ist doch
im Allgemeinen die vorherrschende Tendenz der klassischen Archäologie
eine orientfreundliche; wenigstens haben Ausführungen, die, wie etwa
diejenigen Milchhöfer's, ein europäisch-autochthones nichtorientalisches
Moment in der mykenischen Kunst zu wesentlicher Geltung bringen
wollten, bisher wenig entgegenkommende Aufnahme gefunden. Es muss
also der Sachverhalt doch nicht so klar und überzeugend daliegen wie
er Goodyear erscheint, wenn wir wahrnehmen, dass dieser Forscher mit
seiner radikalen Theorie vom ausschliesslich egyptischen2) Ursprunge

1a) A. a. O. S. 311 ff.
2) Die egyptische Kunst wird ja auch zur altorientalischen im weitesten
Sinne gezählt.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
müssen wir davon absehen, unserer Betrachtung der mykenischen Kunst-
denkmäler, oder, genauer gesagt, das an denselben zu Tage tretenden
Pflanzenornaments einen bestimmten ethnographischen Ausgangspunkt
zu Grunde zu legen. Wir wollen versuchen diese Kunst ausschliesslich
von denjenigen Gesichtspunkten aus zu charakterisiren, die uns im Zu-
sammenhange der gestellten Aufgabe interessiren; vielleicht wird sich
uns daraus umgekehrt die Möglichkeit ergeben, auf die ethnographische
Frage Rückschlüsse zu ziehen.

Eine Charakterisirung der mykenischen Kunst nach allen ihren
Seiten hin ist bisher nicht geliefert, ja nicht einmal versucht worden.
Die Ursache hiefür liegt zweifellos darin, dass bei der Betrachtung der
bezüglichen Denkmäler neben vielem Bekannten manches Fremdartige
aufstösst, dessen Einreihung in die hergebrachte Schablone des orien-
talischen Ursprungs nicht recht gelingen will, und das anderseits auch
mit späterer hellenischer Weise keinen augenfälligen Zusammenhang
aufweist. Aus verschiedenen Gründen glaubt man ein hohes Alter für
die Blüthezeit dieser Kunst, jedenfalls mehrere Jahrhunderte vor dem
Jahre Eintausend annehmen zu sollen; damit lassen sich wiederum
Funde von so vorgeschrittener technischer und künstlerischer Be-
schaffenheit, wie etwa der Becher von Vaphio, anscheinend schwer ver-
einbaren.

Goodyear allerdings trägt auch hinsichtlich der mykenischen Kunst
keine Bedenken, sie durchaus egyptischem Ursprunge zuzuweisen1a).
Von den ornamentalen Motiven der mykenischen Kunst lässt er nur
dem Tintenfisch eine selbständige, von Egypten unabhängige Bedeutung
zukommen, und selbst diese eine Ausnahme scheint ihm an Werth sehr
viel eingebüsst zu haben, seitdem zwei mykenische Vasen mit Tinten-
fischen auf egyptischem Boden gefunden worden sind. Nun ist doch
im Allgemeinen die vorherrschende Tendenz der klassischen Archäologie
eine orientfreundliche; wenigstens haben Ausführungen, die, wie etwa
diejenigen Milchhöfer’s, ein europäisch-autochthones nichtorientalisches
Moment in der mykenischen Kunst zu wesentlicher Geltung bringen
wollten, bisher wenig entgegenkommende Aufnahme gefunden. Es muss
also der Sachverhalt doch nicht so klar und überzeugend daliegen wie
er Goodyear erscheint, wenn wir wahrnehmen, dass dieser Forscher mit
seiner radikalen Theorie vom ausschliesslich egyptischen2) Ursprunge

1a) A. a. O. S. 311 ff.
2) Die egyptische Kunst wird ja auch zur altorientalischen im weitesten
Sinne gezählt.
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[114/0140] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. müssen wir davon absehen, unserer Betrachtung der mykenischen Kunst- denkmäler, oder, genauer gesagt, das an denselben zu Tage tretenden Pflanzenornaments einen bestimmten ethnographischen Ausgangspunkt zu Grunde zu legen. Wir wollen versuchen diese Kunst ausschliesslich von denjenigen Gesichtspunkten aus zu charakterisiren, die uns im Zu- sammenhange der gestellten Aufgabe interessiren; vielleicht wird sich uns daraus umgekehrt die Möglichkeit ergeben, auf die ethnographische Frage Rückschlüsse zu ziehen. Eine Charakterisirung der mykenischen Kunst nach allen ihren Seiten hin ist bisher nicht geliefert, ja nicht einmal versucht worden. Die Ursache hiefür liegt zweifellos darin, dass bei der Betrachtung der bezüglichen Denkmäler neben vielem Bekannten manches Fremdartige aufstösst, dessen Einreihung in die hergebrachte Schablone des orien- talischen Ursprungs nicht recht gelingen will, und das anderseits auch mit späterer hellenischer Weise keinen augenfälligen Zusammenhang aufweist. Aus verschiedenen Gründen glaubt man ein hohes Alter für die Blüthezeit dieser Kunst, jedenfalls mehrere Jahrhunderte vor dem Jahre Eintausend annehmen zu sollen; damit lassen sich wiederum Funde von so vorgeschrittener technischer und künstlerischer Be- schaffenheit, wie etwa der Becher von Vaphio, anscheinend schwer ver- einbaren. Goodyear allerdings trägt auch hinsichtlich der mykenischen Kunst keine Bedenken, sie durchaus egyptischem Ursprunge zuzuweisen 1a). Von den ornamentalen Motiven der mykenischen Kunst lässt er nur dem Tintenfisch eine selbständige, von Egypten unabhängige Bedeutung zukommen, und selbst diese eine Ausnahme scheint ihm an Werth sehr viel eingebüsst zu haben, seitdem zwei mykenische Vasen mit Tinten- fischen auf egyptischem Boden gefunden worden sind. Nun ist doch im Allgemeinen die vorherrschende Tendenz der klassischen Archäologie eine orientfreundliche; wenigstens haben Ausführungen, die, wie etwa diejenigen Milchhöfer’s, ein europäisch-autochthones nichtorientalisches Moment in der mykenischen Kunst zu wesentlicher Geltung bringen wollten, bisher wenig entgegenkommende Aufnahme gefunden. Es muss also der Sachverhalt doch nicht so klar und überzeugend daliegen wie er Goodyear erscheint, wenn wir wahrnehmen, dass dieser Forscher mit seiner radikalen Theorie vom ausschliesslich egyptischen 2) Ursprunge 1a) A. a. O. S. 311 ff. 2) Die egyptische Kunst wird ja auch zur altorientalischen im weitesten Sinne gezählt.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/140>, abgerufen am 21.11.2024.