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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
chischen Kunst ist das Epheublatt von der geschwungenen Ranke meist
unzertrennlich; wo es lose gereiht vorkommt, dort zeigt es höchst cha-
rakteristischer Massen sehr frei bewegte Formen, wofür ein sprechendes
Beispiel auf der Schulter einer bei Salzmann, Necropole de Camiros
Taf. 47 publicirten Vase. Auch die nicht seltenen etruskischen Beispiele
von "Epheublättern", die Goodyear's Scharfblick nicht entgangen sind,
treten gewöhnlich in Begleitung von geschwungenen Rankenstengeln
auf. Was aber doch wieder andererseits eine Entlehnung aus egyp-
tischem Gebiete als das Wahrscheinlichste erscheinen lässt, ist der Um-
stand, dass es ein in der Geschichte der Ornamentik bis zu diesem
Punkte und noch lange nachher unerhörtes Ereigniss bedeuten würde,
wenn man ein so unbedeutendes Ding wie ein Blatt an und für sich,
um seiner selbst willen, unter die Zierformen aufgenommen hätte. Es
erscheint daher immer noch als das Wahrscheinlichste, dass das "Epheu-
blatt" als Blüthenform aus fremdem Kunstbesitz von den "mykenischen"
Künstlern übernommen wurde.

Wir fassen nunmehr das Ergebniss zusammen. In der mykenischen
Kunst begegnet uns überhaupt zum ersten Male eine frei bewegte
Pflanzenranke zu dekorativen Zwecken verwendet. Ferner ist die my-
kenische Kunst, so viel wir sehen können, die Wiege der fortlaufenden
sowie der intermittirenden Wellenranke gewesen, d. h. derjenigen zwei
Pflanzenrankenmotive, die der griechischen Kunst, und zwar dieser
zuerst innerhalb der ganzen antiken Kunstgeschichte, ganz besonders
eigenthümlich gewesen sind. Wer vorschauend sich der entscheidenden
Rolle bewusst ist, welche das Rankenornament in der Folgezeit, in der
hellenistischen und in der römischen Kunst, dann im Mittelalter nament-
lich in der saracenischen23a), endlich in der Renaissancekunst bis auf
den heutigen Tag gespielt hat, wird erst voll ermessen, welche epochale
Bedeutung jener Zeit und jenem Volke beigemessen werden muss, wo
dasselbe zum ersten Male nachweislich geübt wurde. Das Motiv der
frei bewegten Pflanzenranke ist in diesem Lichte betrachtet ein überaus
sprechender Ausdruck für den griechischen Kunstgeist überhaupt. Ebenso
wie dieser die uralt egyptischen Blüthenmotive nach den Gesetzen des

23a) Die intermittirende Wellenranke ist u. A. noch heute das gebräuch-
lichste Bordürenmotiv an persischen Teppichen. Da kein assyrisches oder
achämenidisches Denkmal über die einseitigen Bogenreihen hinausgekommen
ist, wird es wohl für niemand Unbefangenen mehr einen Zweifel leiden, dass
dieses Motiv erst mit der hellenistischen Invasion in das Festland von Asien
gelangt ist.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
chischen Kunst ist das Epheublatt von der geschwungenen Ranke meist
unzertrennlich; wo es lose gereiht vorkommt, dort zeigt es höchst cha-
rakteristischer Massen sehr frei bewegte Formen, wofür ein sprechendes
Beispiel auf der Schulter einer bei Salzmann, Nécropole de Camiros
Taf. 47 publicirten Vase. Auch die nicht seltenen etruskischen Beispiele
von „Epheublättern“, die Goodyear’s Scharfblick nicht entgangen sind,
treten gewöhnlich in Begleitung von geschwungenen Rankenstengeln
auf. Was aber doch wieder andererseits eine Entlehnung aus egyp-
tischem Gebiete als das Wahrscheinlichste erscheinen lässt, ist der Um-
stand, dass es ein in der Geschichte der Ornamentik bis zu diesem
Punkte und noch lange nachher unerhörtes Ereigniss bedeuten würde,
wenn man ein so unbedeutendes Ding wie ein Blatt an und für sich,
um seiner selbst willen, unter die Zierformen aufgenommen hätte. Es
erscheint daher immer noch als das Wahrscheinlichste, dass das „Epheu-
blatt“ als Blüthenform aus fremdem Kunstbesitz von den „mykenischen“
Künstlern übernommen wurde.

Wir fassen nunmehr das Ergebniss zusammen. In der mykenischen
Kunst begegnet uns überhaupt zum ersten Male eine frei bewegte
Pflanzenranke zu dekorativen Zwecken verwendet. Ferner ist die my-
kenische Kunst, so viel wir sehen können, die Wiege der fortlaufenden
sowie der intermittirenden Wellenranke gewesen, d. h. derjenigen zwei
Pflanzenrankenmotive, die der griechischen Kunst, und zwar dieser
zuerst innerhalb der ganzen antiken Kunstgeschichte, ganz besonders
eigenthümlich gewesen sind. Wer vorschauend sich der entscheidenden
Rolle bewusst ist, welche das Rankenornament in der Folgezeit, in der
hellenistischen und in der römischen Kunst, dann im Mittelalter nament-
lich in der saracenischen23a), endlich in der Renaissancekunst bis auf
den heutigen Tag gespielt hat, wird erst voll ermessen, welche epochale
Bedeutung jener Zeit und jenem Volke beigemessen werden muss, wo
dasselbe zum ersten Male nachweislich geübt wurde. Das Motiv der
frei bewegten Pflanzenranke ist in diesem Lichte betrachtet ein überaus
sprechender Ausdruck für den griechischen Kunstgeist überhaupt. Ebenso
wie dieser die uralt egyptischen Blüthenmotive nach den Gesetzen des

23a) Die intermittirende Wellenranke ist u. A. noch heute das gebräuch-
lichste Bordürenmotiv an persischen Teppichen. Da kein assyrisches oder
achämenidisches Denkmal über die einseitigen Bogenreihen hinausgekommen
ist, wird es wohl für niemand Unbefangenen mehr einen Zweifel leiden, dass
dieses Motiv erst mit der hellenistischen Invasion in das Festland von Asien
gelangt ist.
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[126/0152] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. chischen Kunst ist das Epheublatt von der geschwungenen Ranke meist unzertrennlich; wo es lose gereiht vorkommt, dort zeigt es höchst cha- rakteristischer Massen sehr frei bewegte Formen, wofür ein sprechendes Beispiel auf der Schulter einer bei Salzmann, Nécropole de Camiros Taf. 47 publicirten Vase. Auch die nicht seltenen etruskischen Beispiele von „Epheublättern“, die Goodyear’s Scharfblick nicht entgangen sind, treten gewöhnlich in Begleitung von geschwungenen Rankenstengeln auf. Was aber doch wieder andererseits eine Entlehnung aus egyp- tischem Gebiete als das Wahrscheinlichste erscheinen lässt, ist der Um- stand, dass es ein in der Geschichte der Ornamentik bis zu diesem Punkte und noch lange nachher unerhörtes Ereigniss bedeuten würde, wenn man ein so unbedeutendes Ding wie ein Blatt an und für sich, um seiner selbst willen, unter die Zierformen aufgenommen hätte. Es erscheint daher immer noch als das Wahrscheinlichste, dass das „Epheu- blatt“ als Blüthenform aus fremdem Kunstbesitz von den „mykenischen“ Künstlern übernommen wurde. Wir fassen nunmehr das Ergebniss zusammen. In der mykenischen Kunst begegnet uns überhaupt zum ersten Male eine frei bewegte Pflanzenranke zu dekorativen Zwecken verwendet. Ferner ist die my- kenische Kunst, so viel wir sehen können, die Wiege der fortlaufenden sowie der intermittirenden Wellenranke gewesen, d. h. derjenigen zwei Pflanzenrankenmotive, die der griechischen Kunst, und zwar dieser zuerst innerhalb der ganzen antiken Kunstgeschichte, ganz besonders eigenthümlich gewesen sind. Wer vorschauend sich der entscheidenden Rolle bewusst ist, welche das Rankenornament in der Folgezeit, in der hellenistischen und in der römischen Kunst, dann im Mittelalter nament- lich in der saracenischen 23a), endlich in der Renaissancekunst bis auf den heutigen Tag gespielt hat, wird erst voll ermessen, welche epochale Bedeutung jener Zeit und jenem Volke beigemessen werden muss, wo dasselbe zum ersten Male nachweislich geübt wurde. Das Motiv der frei bewegten Pflanzenranke ist in diesem Lichte betrachtet ein überaus sprechender Ausdruck für den griechischen Kunstgeist überhaupt. Ebenso wie dieser die uralt egyptischen Blüthenmotive nach den Gesetzen des 23a) Die intermittirende Wellenranke ist u. A. noch heute das gebräuch- lichste Bordürenmotiv an persischen Teppichen. Da kein assyrisches oder achämenidisches Denkmal über die einseitigen Bogenreihen hinausgekommen ist, wird es wohl für niemand Unbefangenen mehr einen Zweifel leiden, dass dieses Motiv erst mit der hellenistischen Invasion in das Festland von Asien gelangt ist.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/152>, abgerufen am 21.11.2024.