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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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5. Altböotisches. Frühattisches.
den oberen Rand, biegt dort um und spaltet sich in zwei durch eine
Klammer zusammen gehaltene Spiralen, die einem Palmettenfächer zum
Kelch dienen. Die nach rechts ausgreifende Spirale entsendet aber
wiederum einen Spiralschössling nach unten und bildet mit ihm einen
zweiten Kelch in dem allerdings aus Raummangel bloss ein füllender
Dorn Platz finden konnte. Der letztgenannte Spiralschössling endlich
entsendet einen gleichen noch weiter rechts nach oben und bildet mit
ihm den Kelch für eine Palmette gleich der zuerst genannten. Sehen
wir von den Füllungsblumen ganz ab, so erkennen wir unschwer das
Schema von Fig. 80, beziehungsweise Fig. 50.

Woran liegt es nun, dass Böhlau den Sachverhalt an Fig. 81 nicht
sofort erkannt hat? Vielleicht hat ihn auch die kurze Zweigform be-
irrt, gewiss aber die überwiegenden Dimensionen der Palmettenfächer
gegenüber den Spiralkelchen. Während diese letztere an Fig. 80 und
insbesondere an dem zweiten Böhlau'schen Beispiele klar und tonan-
gebend um die Schale herum fliessen, treten sie an Fig. 81 gegenüber
den Zwickelpalmetten zurück -- mit anderen Worten: die Palmetten
werden zur Hauptsache, die Spiralen zur blossen acciden-
tellen Rankenverbindung
. Darin kündigt sich der Weg der Zukunft
an, während das Motiv der fortlaufenden Wellenranke an sich den Zu-
sammenhang mit der mykenischen Vorstufe herstellt.

Aber auch noch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist Fig. 81
für die Entwicklung des griechischen Pflanzen-Rankenornaments be-
deutungsvoll: es ist dies das erste Mal, dass sich die Wellenranke von
der geschlossenen bordüreartigen Streifenform emancipirt und als selb-
ständiger Zweig
91) frei hingeworfen erscheint. Dies ist aber das
eigentliche Ziel der griechischen Rankenornamentik gewesen: die freie
Entfaltung der undulirenden Linien über eine beliebige,
nicht bloss auf einen Längsstreifen beschränkte Fläche
. Unter
diesem Hinblick ist der, wenngleich nicht eben schön gelungene Wellen-
rankenzweig Fig. 81 historisch weit bedeutsamer, als die auf S. 167 f. ge-
würdigte Wellenranke Fig. 75. Diese letztere ergiebt sich uns jetzt als
die formvollendete Lösung eines schon von der mykenischen Kunst
vorgebildeten Motivs, als Abschluss des Entwicklungsprocesses eines

91) Rankenzweige kennt, wie wir gesehen haben, schon die mykenische
Kunst sowie die meisten archaisch-griechischen Stile (auch der in Rede
stehende böotische). Es ist der Wellenrankenzweig, der hier zum ersten-
male auftritt; allerdings vermöchte man vielleicht selbst hiefür ein mykeni-
sches Vorbild in Fig. 49 erblicken.

5. Altböotisches. Frühattisches.
den oberen Rand, biegt dort um und spaltet sich in zwei durch eine
Klammer zusammen gehaltene Spiralen, die einem Palmettenfächer zum
Kelch dienen. Die nach rechts ausgreifende Spirale entsendet aber
wiederum einen Spiralschössling nach unten und bildet mit ihm einen
zweiten Kelch in dem allerdings aus Raummangel bloss ein füllender
Dorn Platz finden konnte. Der letztgenannte Spiralschössling endlich
entsendet einen gleichen noch weiter rechts nach oben und bildet mit
ihm den Kelch für eine Palmette gleich der zuerst genannten. Sehen
wir von den Füllungsblumen ganz ab, so erkennen wir unschwer das
Schema von Fig. 80, beziehungsweise Fig. 50.

Woran liegt es nun, dass Böhlau den Sachverhalt an Fig. 81 nicht
sofort erkannt hat? Vielleicht hat ihn auch die kurze Zweigform be-
irrt, gewiss aber die überwiegenden Dimensionen der Palmettenfächer
gegenüber den Spiralkelchen. Während diese letztere an Fig. 80 und
insbesondere an dem zweiten Böhlau’schen Beispiele klar und tonan-
gebend um die Schale herum fliessen, treten sie an Fig. 81 gegenüber
den Zwickelpalmetten zurück — mit anderen Worten: die Palmetten
werden zur Hauptsache, die Spiralen zur blossen acciden-
tellen Rankenverbindung
. Darin kündigt sich der Weg der Zukunft
an, während das Motiv der fortlaufenden Wellenranke an sich den Zu-
sammenhang mit der mykenischen Vorstufe herstellt.

Aber auch noch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist Fig. 81
für die Entwicklung des griechischen Pflanzen-Rankenornaments be-
deutungsvoll: es ist dies das erste Mal, dass sich die Wellenranke von
der geschlossenen bordüreartigen Streifenform emancipirt und als selb-
ständiger Zweig
91) frei hingeworfen erscheint. Dies ist aber das
eigentliche Ziel der griechischen Rankenornamentik gewesen: die freie
Entfaltung der undulirenden Linien über eine beliebige,
nicht bloss auf einen Längsstreifen beschränkte Fläche
. Unter
diesem Hinblick ist der, wenngleich nicht eben schön gelungene Wellen-
rankenzweig Fig. 81 historisch weit bedeutsamer, als die auf S. 167 f. ge-
würdigte Wellenranke Fig. 75. Diese letztere ergiebt sich uns jetzt als
die formvollendete Lösung eines schon von der mykenischen Kunst
vorgebildeten Motivs, als Abschluss des Entwicklungsprocesses eines

91) Rankenzweige kennt, wie wir gesehen haben, schon die mykenische
Kunst sowie die meisten archaisch-griechischen Stile (auch der in Rede
stehende böotische). Es ist der Wellenrankenzweig, der hier zum ersten-
male auftritt; allerdings vermöchte man vielleicht selbst hiefür ein mykeni-
sches Vorbild in Fig. 49 erblicken.
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[175/0201] 5. Altböotisches. Frühattisches. den oberen Rand, biegt dort um und spaltet sich in zwei durch eine Klammer zusammen gehaltene Spiralen, die einem Palmettenfächer zum Kelch dienen. Die nach rechts ausgreifende Spirale entsendet aber wiederum einen Spiralschössling nach unten und bildet mit ihm einen zweiten Kelch in dem allerdings aus Raummangel bloss ein füllender Dorn Platz finden konnte. Der letztgenannte Spiralschössling endlich entsendet einen gleichen noch weiter rechts nach oben und bildet mit ihm den Kelch für eine Palmette gleich der zuerst genannten. Sehen wir von den Füllungsblumen ganz ab, so erkennen wir unschwer das Schema von Fig. 80, beziehungsweise Fig. 50. Woran liegt es nun, dass Böhlau den Sachverhalt an Fig. 81 nicht sofort erkannt hat? Vielleicht hat ihn auch die kurze Zweigform be- irrt, gewiss aber die überwiegenden Dimensionen der Palmettenfächer gegenüber den Spiralkelchen. Während diese letztere an Fig. 80 und insbesondere an dem zweiten Böhlau’schen Beispiele klar und tonan- gebend um die Schale herum fliessen, treten sie an Fig. 81 gegenüber den Zwickelpalmetten zurück — mit anderen Worten: die Palmetten werden zur Hauptsache, die Spiralen zur blossen acciden- tellen Rankenverbindung. Darin kündigt sich der Weg der Zukunft an, während das Motiv der fortlaufenden Wellenranke an sich den Zu- sammenhang mit der mykenischen Vorstufe herstellt. Aber auch noch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist Fig. 81 für die Entwicklung des griechischen Pflanzen-Rankenornaments be- deutungsvoll: es ist dies das erste Mal, dass sich die Wellenranke von der geschlossenen bordüreartigen Streifenform emancipirt und als selb- ständiger Zweig 91) frei hingeworfen erscheint. Dies ist aber das eigentliche Ziel der griechischen Rankenornamentik gewesen: die freie Entfaltung der undulirenden Linien über eine beliebige, nicht bloss auf einen Längsstreifen beschränkte Fläche. Unter diesem Hinblick ist der, wenngleich nicht eben schön gelungene Wellen- rankenzweig Fig. 81 historisch weit bedeutsamer, als die auf S. 167 f. ge- würdigte Wellenranke Fig. 75. Diese letztere ergiebt sich uns jetzt als die formvollendete Lösung eines schon von der mykenischen Kunst vorgebildeten Motivs, als Abschluss des Entwicklungsprocesses eines 91) Rankenzweige kennt, wie wir gesehen haben, schon die mykenische Kunst sowie die meisten archaisch-griechischen Stile (auch der in Rede stehende böotische). Es ist der Wellenrankenzweig, der hier zum ersten- male auftritt; allerdings vermöchte man vielleicht selbst hiefür ein mykeni- sches Vorbild in Fig. 49 erblicken.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/201>, abgerufen am 04.12.2024.