Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Einleitung. Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Natur und im Allgemeinenauch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist, als freie Endi- gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig wiederum in Ranken übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter- drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des Einleitung. Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Natur und im Allgemeinenauch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist, als freie Endi- gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig wiederum in Ranken übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter- drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0023" n="XVII"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/> Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Natur und im Allgemeinen<lb/> auch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist, als freie Endi-<lb/> gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig wiederum in Ranken<lb/> übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter-<lb/> drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen<lb/> der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft<lb/> bis zur Unkenntlichkeit verschleiert.</p><lb/> <p>Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und<lb/> charakteristische der Arabeske bezeichnet werden darf, und in<lb/> welcher die antinaturalistische auf das Abstrakte gerichtete Tendenz<lb/> aller frühsaracenischen Kunst ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat,<lb/> lässt sich ebenfalls schon in der antiken Rankenornamentik vorgebildet<lb/> beobachten. Dem Nachweise dieses Sachverhaltes ist nebst den<lb/> Schlusse des dritten das vierte Kapitel dieses Buches gewidmet. Ich<lb/> hole damit zugleich etwas nach, was ich in meinen „Altorientalischen<lb/> Teppichen“ zu geben, hauptsächlich durch Raummangel verhindert<lb/> war. Dieser Nachtrag erscheint mir um so nothwendiger, als sich her-<lb/> ausgestellt hat, dass man vielfach die Natürlichkeit des Vorganges, die<lb/> antike Kunst zum Ausgangspunkte der frühmittelalterlichen auch auf<lb/> orientalischem Boden zu machen, nicht recht einsehen wollte: so tief-<lb/> gewurzelt ist in den modernen Geistern die antihistorische Anschauung,<lb/> dass die Kunst da und dort ihren spontanen, autochthonen Ursprung<lb/> genommen haben müsse, höchstens der Occident der lernende, der<lb/> Orient aber immer nur der spendende Theil gewesen sein könne.<lb/> Nicht bloss den Dichtern, auch den Kunstschriftstellern wurde der<lb/> Orient zum Lande der Märchen und Zauberwerke: in den fernen Orient<lb/> verlegen sie mit Vorliebe die Erfindung aller erdenklichen „Techniken“,<lb/> namentlich aber der flächenverzierenden. Und schien einmal eine<lb/> „Technik“ als im Orient autochthon erwiesen, so musste es dann auch<lb/> die mittels derselben hervorgebrachte Kunst gewesen sein, die doch<lb/> nach der herrschenden Anschauung der führenden „Technik“ überall<lb/> erst nachgehinkt wäre.</p><lb/> <p>Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des<lb/> Pflanzenrankenornaments sind innerhalb des abendländischen Mittel-<lb/> alters gegeben. Nicht als ob dieses Gebiet von den Einwirkungen des<lb/> Kunstmaterialismus völlig verschont geblieben wäre: vielmehr lassen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [XVII/0023]
Einleitung.
Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Natur und im Allgemeinen
auch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist, als freie Endi-
gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig wiederum in Ranken
übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter-
drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen
der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft
bis zur Unkenntlichkeit verschleiert.
Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und
charakteristische der Arabeske bezeichnet werden darf, und in
welcher die antinaturalistische auf das Abstrakte gerichtete Tendenz
aller frühsaracenischen Kunst ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat,
lässt sich ebenfalls schon in der antiken Rankenornamentik vorgebildet
beobachten. Dem Nachweise dieses Sachverhaltes ist nebst den
Schlusse des dritten das vierte Kapitel dieses Buches gewidmet. Ich
hole damit zugleich etwas nach, was ich in meinen „Altorientalischen
Teppichen“ zu geben, hauptsächlich durch Raummangel verhindert
war. Dieser Nachtrag erscheint mir um so nothwendiger, als sich her-
ausgestellt hat, dass man vielfach die Natürlichkeit des Vorganges, die
antike Kunst zum Ausgangspunkte der frühmittelalterlichen auch auf
orientalischem Boden zu machen, nicht recht einsehen wollte: so tief-
gewurzelt ist in den modernen Geistern die antihistorische Anschauung,
dass die Kunst da und dort ihren spontanen, autochthonen Ursprung
genommen haben müsse, höchstens der Occident der lernende, der
Orient aber immer nur der spendende Theil gewesen sein könne.
Nicht bloss den Dichtern, auch den Kunstschriftstellern wurde der
Orient zum Lande der Märchen und Zauberwerke: in den fernen Orient
verlegen sie mit Vorliebe die Erfindung aller erdenklichen „Techniken“,
namentlich aber der flächenverzierenden. Und schien einmal eine
„Technik“ als im Orient autochthon erwiesen, so musste es dann auch
die mittels derselben hervorgebrachte Kunst gewesen sein, die doch
nach der herrschenden Anschauung der führenden „Technik“ überall
erst nachgehinkt wäre.
Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des
Pflanzenrankenornaments sind innerhalb des abendländischen Mittel-
alters gegeben. Nicht als ob dieses Gebiet von den Einwirkungen des
Kunstmaterialismus völlig verschont geblieben wäre: vielmehr lassen
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