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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Egyptisches.
rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche
Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus
des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist:
die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch-
blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln
steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor.

Der Erfüllung des gleichen Postulats der Zwickelfüllung25) dienen
auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten
an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein-
componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym-
bolischen Bedeutung auffasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna-
mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch
dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie
jedes andere alte Kunstvolk leiten liessen, fast grundsätzlich ausser
Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten
Tropfen in Fig. 16 und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser-
liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe,
geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht-
knoten konstruirt hat.

Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in
ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe -- wie wir
gleich sehen werden (Fig. 20) -- ohne bekrönenden Blattfächer, als
blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm
als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln.
Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische
Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son-
dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man
die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so-
viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel-
füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfluss gewesen
sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung
in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be-
deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt-
sächlich ästhetisch-dekorativer Natur.


25) Wir werden noch des öfteren Veranlassung haben, die Bedeutsamkeit
dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach-
weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em-
pfindung zu Grunde liegt, wird gleichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung
finden.

1. Egyptisches.
rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche
Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus
des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist:
die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch-
blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln
steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor.

Der Erfüllung des gleichen Postulats der Zwickelfüllung25) dienen
auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten
an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein-
componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym-
bolischen Bedeutung auffasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna-
mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch
dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie
jedes andere alte Kunstvolk leiten liessen, fast grundsätzlich ausser
Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten
Tropfen in Fig. 16 und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser-
liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe,
geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht-
knoten konstruirt hat.

Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in
ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe — wie wir
gleich sehen werden (Fig. 20) — ohne bekrönenden Blattfächer, als
blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm
als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln.
Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische
Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son-
dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man
die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so-
viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel-
füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfluss gewesen
sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung
in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be-
deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt-
sächlich ästhetisch-dekorativer Natur.


25) Wir werden noch des öfteren Veranlassung haben, die Bedeutsamkeit
dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach-
weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em-
pfindung zu Grunde liegt, wird gleichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung
finden.
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[63/0089] 1. Egyptisches. rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist: die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch- blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor. Der Erfüllung des gleichen Postulats der Zwickelfüllung 25) dienen auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein- componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym- bolischen Bedeutung auffasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna- mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie jedes andere alte Kunstvolk leiten liessen, fast grundsätzlich ausser Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten Tropfen in Fig. 16 und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser- liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe, geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht- knoten konstruirt hat. Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe — wie wir gleich sehen werden (Fig. 20) — ohne bekrönenden Blattfächer, als blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln. Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son- dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so- viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel- füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfluss gewesen sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be- deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt- sächlich ästhetisch-dekorativer Natur. 25) Wir werden noch des öfteren Veranlassung haben, die Bedeutsamkeit dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach- weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em- pfindung zu Grunde liegt, wird gleichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung finden.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/89>, abgerufen am 23.11.2024.