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Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 67–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Wahrheit ans Licht gekommen: jetzt ist es zu spät; warten wir aber ab, bis die beiden Parteien sich geeint haben, aus welchem Grund der Muckenhuber gehenkt werden solle, so kann er inzwischen im Thurm an Altersschwäche sterben. Den Schaden aber hat die Stadt, welche dem hergelaufenen Kerl so lange frei Kost und Obdach giebt. -- Da nun der Stadtschreiber mit feiner Menschenkenntniß weiter schloß, Jürg möge nach so vielen Wochen wohl mürbe und die schmale Küche des Eisenmeisters satt geworden sein, so däuchte ihm die beste Lösung, dem Burschen so ganz von ungefähr die Thür offen zu lassen, daß er davonlaufen könne. Mit dem Gegenstande des Streites werde dann auch der Streit verschwinden, ja, Jedermann werde sich wundern, wie man sich über solch einen Hallunken so lange habe den Kopf zerbrechen können, die Ehre der Justiz sei gerettet und die Rechtfertigung des nachlässigen Eisenmeisters wolle er, der Stadtschreiber, schon auf sich nehmen.

So veranlaßte er es denn, daß die Riegel an Jörg's Kerkerthüre zum öftern nicht vorgeschoben wurden. Jörg merkte es wohl, blieb aber doch sitzen; er wollte auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt sein.

Als er jedoch eines Tages seiner Nachbarin von der wachsenden Nachlässigkeit des Eisenmeisters erzählte, kam die Sache in ein anderes Geleis. Mit dem bloßen Gedanken der offenen Thür (wenn auch nicht des eigenen Gefängnisses) erwachte bei Frau Hollin

Wahrheit ans Licht gekommen: jetzt ist es zu spät; warten wir aber ab, bis die beiden Parteien sich geeint haben, aus welchem Grund der Muckenhuber gehenkt werden solle, so kann er inzwischen im Thurm an Altersschwäche sterben. Den Schaden aber hat die Stadt, welche dem hergelaufenen Kerl so lange frei Kost und Obdach giebt. — Da nun der Stadtschreiber mit feiner Menschenkenntniß weiter schloß, Jürg möge nach so vielen Wochen wohl mürbe und die schmale Küche des Eisenmeisters satt geworden sein, so däuchte ihm die beste Lösung, dem Burschen so ganz von ungefähr die Thür offen zu lassen, daß er davonlaufen könne. Mit dem Gegenstande des Streites werde dann auch der Streit verschwinden, ja, Jedermann werde sich wundern, wie man sich über solch einen Hallunken so lange habe den Kopf zerbrechen können, die Ehre der Justiz sei gerettet und die Rechtfertigung des nachlässigen Eisenmeisters wolle er, der Stadtschreiber, schon auf sich nehmen.

So veranlaßte er es denn, daß die Riegel an Jörg's Kerkerthüre zum öftern nicht vorgeschoben wurden. Jörg merkte es wohl, blieb aber doch sitzen; er wollte auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt sein.

Als er jedoch eines Tages seiner Nachbarin von der wachsenden Nachlässigkeit des Eisenmeisters erzählte, kam die Sache in ein anderes Geleis. Mit dem bloßen Gedanken der offenen Thür (wenn auch nicht des eigenen Gefängnisses) erwachte bei Frau Hollin

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[0022] Wahrheit ans Licht gekommen: jetzt ist es zu spät; warten wir aber ab, bis die beiden Parteien sich geeint haben, aus welchem Grund der Muckenhuber gehenkt werden solle, so kann er inzwischen im Thurm an Altersschwäche sterben. Den Schaden aber hat die Stadt, welche dem hergelaufenen Kerl so lange frei Kost und Obdach giebt. — Da nun der Stadtschreiber mit feiner Menschenkenntniß weiter schloß, Jürg möge nach so vielen Wochen wohl mürbe und die schmale Küche des Eisenmeisters satt geworden sein, so däuchte ihm die beste Lösung, dem Burschen so ganz von ungefähr die Thür offen zu lassen, daß er davonlaufen könne. Mit dem Gegenstande des Streites werde dann auch der Streit verschwinden, ja, Jedermann werde sich wundern, wie man sich über solch einen Hallunken so lange habe den Kopf zerbrechen können, die Ehre der Justiz sei gerettet und die Rechtfertigung des nachlässigen Eisenmeisters wolle er, der Stadtschreiber, schon auf sich nehmen. So veranlaßte er es denn, daß die Riegel an Jörg's Kerkerthüre zum öftern nicht vorgeschoben wurden. Jörg merkte es wohl, blieb aber doch sitzen; er wollte auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt sein. Als er jedoch eines Tages seiner Nachbarin von der wachsenden Nachlässigkeit des Eisenmeisters erzählte, kam die Sache in ein anderes Geleis. Mit dem bloßen Gedanken der offenen Thür (wenn auch nicht des eigenen Gefängnisses) erwachte bei Frau Hollin

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T10:09:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T10:09:41Z)

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Zitationshilfe: Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 67–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riehl_muckenhuber_1910/22>, abgerufen am 09.11.2024.