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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sterben, gab dann der neuen Gattin des Mannes eine sträfliche
Leidenschaft zu dessen Sohne, ihrem Stiefsohne, ein; dieser
widersteht ihrem Verlangen, wird von der Stiefmutter beim
Vater verklagt, von diesem geblendet und auf einer einsamen
Insel ausgesetzt: der Vater, aller Welt verhasst geworden,
erhängt sich selbst, die Stiefmutter stürzt sich in einen
Brunnen1).

An dieser Erzählung, die auch dadurch merkwürdig ist,
weil in ihr dem Heros, wie sonst wohl den Göttern, eine Ein-
wirkung auf das Innere des Menschen, seine Stimmung und
seine Entschlüsse zugetraut wird, mag ein an Poesie höheren
Styls gewöhnter Geschmack manches abgerundet haben2). Im
Allgemeinen tragen die Heroenlegenden einen völlig volksthüm-
lichen Charakter. Es ist eine Art von niederer Mythologie,
die in ihnen noch neue Schösslinge trieb, als die Götter- und
Heldensage nur noch in der Ueberlieferung sich erhielt, Dichtern
zu unerschöpflicher Combination überlassen, aber nicht mehr
aus dem Volksmunde frisch nachquellend. Die Götter schienen
zu fern gerückt, ihr sichtbares Eingreifen in das Menschenleben
schien nur in alten Sagen aus der Vorzeit glaublich. Die
Heroengeister schwebten näher den Lebenden, in Glück und
Unglück spürte man ihre Macht; in Märchen und Sagen des
Volkes, die sich an Ereignissen der eigenen Gegenwart erzeugen
konnten, bilden sie nun das übernatürliche Element, ohne dessen
Hereinspielen Leben und Geschichte für eine naive Auffassung
keinen Reiz und keine Bedeutung haben.

Wie solche Heroenmärchen aussehen mochten, kann statt

1) Die Geschichte von der Rache des Heros Anagyros erzählen, mit
einigen Varianten in Nebendingen, Hieronym. bei Suidas s. Anagur.
daimon = Apostol. prov. 9, 79; Diogenian. prov. 3, 31 (im cod. Coisl.: I,
p. 219 f. Gotting.). Vgl. Zenob. 2, 55 = Diog. 1, 25. -- Aehnliche Sagen
von einem daimon Kilikios, Aineios lässt voraussetzen, lehrt aber nicht
kennen Macarius prov. 3, 18 (II, p. 155. Gott.).
2) Die Erzählung bei Suidas geht auf den Bericht des Hieronymus
Rhod. peri tragodiopoion (Hier. fr. 4. Hill.) zurück, der die Sage mit
dem Thema des Euripideischen Phoinix in Vergleichung brachte.
12*

sterben, gab dann der neuen Gattin des Mannes eine sträfliche
Leidenschaft zu dessen Sohne, ihrem Stiefsohne, ein; dieser
widersteht ihrem Verlangen, wird von der Stiefmutter beim
Vater verklagt, von diesem geblendet und auf einer einsamen
Insel ausgesetzt: der Vater, aller Welt verhasst geworden,
erhängt sich selbst, die Stiefmutter stürzt sich in einen
Brunnen1).

An dieser Erzählung, die auch dadurch merkwürdig ist,
weil in ihr dem Heros, wie sonst wohl den Göttern, eine Ein-
wirkung auf das Innere des Menschen, seine Stimmung und
seine Entschlüsse zugetraut wird, mag ein an Poesie höheren
Styls gewöhnter Geschmack manches abgerundet haben2). Im
Allgemeinen tragen die Heroenlegenden einen völlig volksthüm-
lichen Charakter. Es ist eine Art von niederer Mythologie,
die in ihnen noch neue Schösslinge trieb, als die Götter- und
Heldensage nur noch in der Ueberlieferung sich erhielt, Dichtern
zu unerschöpflicher Combination überlassen, aber nicht mehr
aus dem Volksmunde frisch nachquellend. Die Götter schienen
zu fern gerückt, ihr sichtbares Eingreifen in das Menschenleben
schien nur in alten Sagen aus der Vorzeit glaublich. Die
Heroengeister schwebten näher den Lebenden, in Glück und
Unglück spürte man ihre Macht; in Märchen und Sagen des
Volkes, die sich an Ereignissen der eigenen Gegenwart erzeugen
konnten, bilden sie nun das übernatürliche Element, ohne dessen
Hereinspielen Leben und Geschichte für eine naive Auffassung
keinen Reiz und keine Bedeutung haben.

Wie solche Heroenmärchen aussehen mochten, kann statt

1) Die Geschichte von der Rache des Heros Anagyros erzählen, mit
einigen Varianten in Nebendingen, Hieronym. bei Suidas s. Ἀνάγυρ.
δαίμων = Apostol. prov. 9, 79; Diogenian. prov. 3, 31 (im cod. Coisl.: I,
p. 219 f. Gotting.). Vgl. Zenob. 2, 55 = Diog. 1, 25. — Aehnliche Sagen
von einem δαίμων Κιλίκιος, Αἴνειος lässt voraussetzen, lehrt aber nicht
kennen Macarius prov. 3, 18 (II, p. 155. Gott.).
2) Die Erzählung bei Suidas geht auf den Bericht des Hieronymus
Rhod. περὶ τραγῳδιοποιῶν (Hier. fr. 4. Hill.) zurück, der die Sage mit
dem Thema des Euripideischen Phoinix in Vergleichung brachte.
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[179/0195] sterben, gab dann der neuen Gattin des Mannes eine sträfliche Leidenschaft zu dessen Sohne, ihrem Stiefsohne, ein; dieser widersteht ihrem Verlangen, wird von der Stiefmutter beim Vater verklagt, von diesem geblendet und auf einer einsamen Insel ausgesetzt: der Vater, aller Welt verhasst geworden, erhängt sich selbst, die Stiefmutter stürzt sich in einen Brunnen 1). An dieser Erzählung, die auch dadurch merkwürdig ist, weil in ihr dem Heros, wie sonst wohl den Göttern, eine Ein- wirkung auf das Innere des Menschen, seine Stimmung und seine Entschlüsse zugetraut wird, mag ein an Poesie höheren Styls gewöhnter Geschmack manches abgerundet haben 2). Im Allgemeinen tragen die Heroenlegenden einen völlig volksthüm- lichen Charakter. Es ist eine Art von niederer Mythologie, die in ihnen noch neue Schösslinge trieb, als die Götter- und Heldensage nur noch in der Ueberlieferung sich erhielt, Dichtern zu unerschöpflicher Combination überlassen, aber nicht mehr aus dem Volksmunde frisch nachquellend. Die Götter schienen zu fern gerückt, ihr sichtbares Eingreifen in das Menschenleben schien nur in alten Sagen aus der Vorzeit glaublich. Die Heroengeister schwebten näher den Lebenden, in Glück und Unglück spürte man ihre Macht; in Märchen und Sagen des Volkes, die sich an Ereignissen der eigenen Gegenwart erzeugen konnten, bilden sie nun das übernatürliche Element, ohne dessen Hereinspielen Leben und Geschichte für eine naive Auffassung keinen Reiz und keine Bedeutung haben. Wie solche Heroenmärchen aussehen mochten, kann statt 1) Die Geschichte von der Rache des Heros Anagyros erzählen, mit einigen Varianten in Nebendingen, Hieronym. bei Suidas s. Ἀνάγυρ. δαίμων = Apostol. prov. 9, 79; Diogenian. prov. 3, 31 (im cod. Coisl.: I, p. 219 f. Gotting.). Vgl. Zenob. 2, 55 = Diog. 1, 25. — Aehnliche Sagen von einem δαίμων Κιλίκιος, Αἴνειος lässt voraussetzen, lehrt aber nicht kennen Macarius prov. 3, 18 (II, p. 155. Gott.). 2) Die Erzählung bei Suidas geht auf den Bericht des Hieronymus Rhod. περὶ τραγῳδιοποιῶν (Hier. fr. 4. Hill.) zurück, der die Sage mit dem Thema des Euripideischen Phoinix in Vergleichung brachte. 12*

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/195>, abgerufen am 21.11.2024.