irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper, "Geist" zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen "Geistes" im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht. Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger bei- sammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun "unempfindliche Erde" geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber sie ist nun nicht etwa Bergerin des "Geistes" und seiner Kräfte, nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Em- pfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche die Eigenschaften des "Geistes" zuschreiben, dass man viel eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm ver- weilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkennt- nissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevor- steht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte.
Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psycho- logen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der "eigentliche Mensch" sei, so giebt Homer freilich widerspruchs- volle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versen
irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper, „Geist“ zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen „Geistes“ im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht. Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger bei- sammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun „unempfindliche Erde“ geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber sie ist nun nicht etwa Bergerin des „Geistes“ und seiner Kräfte, nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Em- pfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche die Eigenschaften des „Geistes“ zuschreiben, dass man viel eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm ver- weilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkennt- nissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevor- steht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte.
Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psycho- logen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der „eigentliche Mensch“ sei, so giebt Homer freilich widerspruchs- volle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versen
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irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper,
„Geist“ zu nennen pflegen. Alle Functionen des menschlichen
„Geistes“ im weitesten Sinne, für welche es dem Dichter an
mannichfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Thätigkeit, ja
sind vorhanden, nur so lange der Mensch im Leben steht.
Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger bei-
sammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun „unempfindliche
Erde“ geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Aber
sie ist nun nicht etwa Bergerin des „Geistes“ und seiner Kräfte,
nicht mehr als der Leichnam. Sie heisst besinnungslos, vom Geist
und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Em-
pfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des
Menschen in seine Bestandtheile. Man kann so wenig der Psyche
die Eigenschaften des „Geistes“ zuschreiben, dass man viel
eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des
Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst
bewusst, geistig thätig nur so lange die Psyche in ihm ver-
weilt, aber nicht sie ist es, die durch Mittheilung ihrer eigenen
Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkennt-
nissvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des
lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des
Lebens und der Thätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen
Functionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann
der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese
und alle seine Thätigkeiten nicht aus durch oder vermittelst
der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche
Thätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst
genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevor-
steht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie
ihn und alle seine Lebenskräfte.
Fragt man nun (wie es bei unseren homerischen Psycho-
logen üblich ist), welches, bei dieser räthselhaften Vereinigung
eines lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der
„eigentliche Mensch“ sei, so giebt Homer freilich widerspruchs-
volle Antworten. Nicht selten (und gleich in den ersten Versen
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/20>, abgerufen am 21.11.2024.
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