Er selbst (daran kann er nicht zweifeln) und doch nicht sein, ihm und Anderen wohlbekanntes sichtbares Ich, denn dieses lag ja wie todt, allen Eindrücken unzugänglich. Es lebt also in ihm ein zweites Ich, das im Traume thätig ist. Dass die Traumerlebnisse thatsächliche Vorgänge sind, nicht leere Ein- bildungen, steht auch für Homer noch fest. Nie heisst es bei ihm, wie doch oft bei späteren Dichtern, dass der Träumende dies und jenes zu sehen "meinte": was er im Traume wahr- nimmt, sind wirkliche Gestalten, der Götter selbst oder eines Traumdämons, den sie absenden, oder eines flüchtigen "Ab- bildes" (Eidolon), das sie für den Augenblick entstehen lassen; wie das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so das, was er sieht, ein realer Gegenstand. So ist es auch ein Wirk- liches, was dem Träumenden erscheint als Gestalt eines jüngst Verstorbenen. Kann diese Gestalt dem Träumenden sich zeigen, so muss sie eben auch noch vorhanden sein: sie überdauert also den Tod, aber freilich nur als ein luftartiges Abbild, so wie wir wohl unser eignes Bild im Wasserspiegel 1) gesehen haben. Denn greifen und halten, wie einst das sichtbare Ich, lässt sich dieses Luftwesen nicht, darum eben heisst es "Psyche". Den uralten Schluss auf das Dasein solches Doppelgängers im Menschen wiederholt, als der todte Freund ihm im Traume erschienen und wieder entschwunden ist, Achilleus (Il. 23, 103 f.): ihr Götter, so bleibt denn wirklich auch noch in des Hades Behausung eine Psyche und ein Schattenbild (des Menschen), doch es fehlt ihm das Zwerchfell (und damit alle Kräfte, die den sichtbaren Menschen am Leben erhalten).
Der Träumende also und was er im Traume sieht, be- stätigt das Dasein eines für sich existirenden zweiten Ich 2).
1) upotithetai (scil. Homer) tas psukhas tois eidolois tois en tois kat- optrois phainomenois omoias kai tois dia ton udaton sunistamenois, a kathapax emin exeikastai kai tas kineseis mimeitai, steremnode de upostasin oudemian ekhei eis antilepsin kai aphen. Apollodor. p. theon bei Stobäus, Ecl. I, p. 420 W.
2) Vgl. Cicero, de divin. I, § 63: iacet corpus dormientis ut mortui, viget autem et vivit animus. quod multo magis faciet post mortem, cum
Er selbst (daran kann er nicht zweifeln) und doch nicht sein, ihm und Anderen wohlbekanntes sichtbares Ich, denn dieses lag ja wie todt, allen Eindrücken unzugänglich. Es lebt also in ihm ein zweites Ich, das im Traume thätig ist. Dass die Traumerlebnisse thatsächliche Vorgänge sind, nicht leere Ein- bildungen, steht auch für Homer noch fest. Nie heisst es bei ihm, wie doch oft bei späteren Dichtern, dass der Träumende dies und jenes zu sehen „meinte“: was er im Traume wahr- nimmt, sind wirkliche Gestalten, der Götter selbst oder eines Traumdämons, den sie absenden, oder eines flüchtigen „Ab- bildes“ (Eidolon), das sie für den Augenblick entstehen lassen; wie das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so das, was er sieht, ein realer Gegenstand. So ist es auch ein Wirk- liches, was dem Träumenden erscheint als Gestalt eines jüngst Verstorbenen. Kann diese Gestalt dem Träumenden sich zeigen, so muss sie eben auch noch vorhanden sein: sie überdauert also den Tod, aber freilich nur als ein luftartiges Abbild, so wie wir wohl unser eignes Bild im Wasserspiegel 1) gesehen haben. Denn greifen und halten, wie einst das sichtbare Ich, lässt sich dieses Luftwesen nicht, darum eben heisst es „Psyche“. Den uralten Schluss auf das Dasein solches Doppelgängers im Menschen wiederholt, als der todte Freund ihm im Traume erschienen und wieder entschwunden ist, Achilleus (Il. 23, 103 f.): ihr Götter, so bleibt denn wirklich auch noch in des Hades Behausung eine Psyche und ein Schattenbild (des Menschen), doch es fehlt ihm das Zwerchfell (und damit alle Kräfte, die den sichtbaren Menschen am Leben erhalten).
Der Träumende also und was er im Traume sieht, be- stätigt das Dasein eines für sich existirenden zweiten Ich 2).
2) Vgl. Cicero, de divin. I, § 63: iacet corpus dormientis ut mortui, viget autem et vivit animus. quod multo magis faciet post mortem, cum
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ihm und Anderen wohlbekanntes sichtbares Ich, denn dieses lag
ja wie todt, allen Eindrücken unzugänglich. Es lebt also in
ihm ein zweites Ich, das im Traume thätig ist. Dass die
Traumerlebnisse thatsächliche Vorgänge sind, nicht leere Ein-
bildungen, steht auch für Homer noch fest. Nie heisst es bei
ihm, wie doch oft bei späteren Dichtern, dass der Träumende
dies und jenes zu sehen „meinte“: was er im Traume wahr-
nimmt, sind wirkliche Gestalten, der Götter selbst oder eines
Traumdämons, den sie absenden, oder eines flüchtigen „Ab-
bildes“ (Eidolon), das sie für den Augenblick entstehen lassen;
wie das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so das,
was er sieht, ein realer Gegenstand. So ist es auch ein Wirk-
liches, was dem Träumenden erscheint als Gestalt eines jüngst
Verstorbenen. Kann diese Gestalt dem Träumenden sich zeigen,
so muss sie eben auch noch vorhanden sein: sie überdauert
also den Tod, aber freilich nur als ein luftartiges Abbild, so
wie wir wohl unser eignes Bild im Wasserspiegel 1) gesehen
haben. Denn greifen und halten, wie einst das sichtbare Ich,
lässt sich dieses Luftwesen nicht, darum eben heisst es „Psyche“.
Den uralten Schluss auf das Dasein solches Doppelgängers
im Menschen wiederholt, als der todte Freund ihm im Traume
erschienen und wieder entschwunden ist, Achilleus (Il. 23, 103 f.):
ihr Götter, so bleibt denn wirklich auch noch in des Hades
Behausung eine Psyche und ein Schattenbild (des Menschen),
doch es fehlt ihm das Zwerchfell (und damit alle Kräfte, die
den sichtbaren Menschen am Leben erhalten).
Der Träumende also und was er im Traume sieht, be-
stätigt das Dasein eines für sich existirenden zweiten Ich 2).
1) ὑποτίϑεται (scil. Homer) τὰς ψυχὰς τοῖς εἰδώλοις τοῖς ἐν τοῖς κατ-
όπτροις φαινομένοις ὁμοίας καὶ τοῖς διὰ τῶν ὑδάτων συνισταμένοις, ἅ
καϑάπαξ ἡμῖν ἐξείκασται καὶ τὰς κινήσεις μιμεῖται, στερεμνώδη δὲ ὑπόστασιν
οὐδεμίαν ἔχει εἰς ἀντίληψιν καὶ ἁφήν. Apollodor. π. ϑεῶν bei Stobäus,
Ecl. I, p. 420 W.
2) Vgl. Cicero, de divin. I, § 63: iacet corpus dormientis ut mortui,
viget autem et vivit animus. quod multo magis faciet post mortem, cum
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/23>, abgerufen am 21.11.2024.
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