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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Maasse ihre Verehrung eingegeben durch ein Gefühl der Pietät,
das nicht mehr auf eigenen Vortheil, sondern auf Ehre und
Nutzen der verehrten Todten bedacht ist, und diese freilich
eigenthümlich gefärbte Pietät giebt dem Seelencult und den
ihm zu Grunde liegenden Vorstellungen erst ihre besondere
Art. Die Seelen sind abhängig von dem Culte der noch im
Leben stehenden Mitglieder ihrer Familie, ihr Loos bestimmt
sich nach der Art dieses Cultes1). Völlig verschieden ist der
Glaube, in dem dieser Seelencult wurzelt, von der Vorstellungs-
weise der homerischen Gedichte, nach der die Seelen, fern
in das Reich des Hades gebannt, aller Pflege und Sorge der
Lebenden auf ewig entzogen sind; völlig verschieden auch von
dem Glauben, den die Mysterien ihren Gläubigen einpflanzten.
Denn nicht nach ihrem (religiösen oder moralischen) Ver-
dienste
empfängt hier die abgeschiedene Seele Vergeltung
im Jenseits. In geschiedenem Bette fliessen diese Glaubens-
richtungen neben einander her. Am nächsten berührt sich
ohne Frage der Seelencult und sein Glaubenskreis mit dem
Heroencult, aber der Unterschied ist dennoch ein grosser. Hier
ist nicht mehr von irgend einem, durch göttliches Wunder ver-
liehenen Privilegium einzelner Bevorzugter die Rede; jede Seele
hat Anspruch auf die sorgende Pflege der Ihrigen, einer jeden
wird ihr Loos bestimmt nicht nach ihrem besonderen Wesen
und ihrem Thun bei Leibesleben, sondern je nach dem Ver-
halten der Ueberlebenden zu ihr. Darum denkt beim Heran-
nahen des Todes ein jeder an sein "Seelenheil", das heisst aber,
an den Cult, den er seiner, vom Leibe geschiedenen Seele
sichern möchte. Bisweilen bestimmt er zu diesem Zwecke eine

1) Ganz naiv spricht sich der Glaube aus in den Worten des Orestes
bei Aeschyl. Choeph. 483 ff. Er ruft der Seele des Vaters zu: outo (wenn
du mir beistehst) gar an soi daites ennomoi broton ktizoiat ; ei de me, par
eudeipnois esei atimos empuroisi knisotois khthonos. Und so gilt auch für alte
Zeit der von Lucian, de luctu 9 verhöhnte Glaube: trephontai de ara (die
Todten) tais par emin khoais kai tois kathagizomenois epi ton taphon ; os ei
to me eie kataleleimmenos uper ges philos e suggenes, asitos outos nekros
kai limotton en autois politeuetai.

Maasse ihre Verehrung eingegeben durch ein Gefühl der Pietät,
das nicht mehr auf eigenen Vortheil, sondern auf Ehre und
Nutzen der verehrten Todten bedacht ist, und diese freilich
eigenthümlich gefärbte Pietät giebt dem Seelencult und den
ihm zu Grunde liegenden Vorstellungen erst ihre besondere
Art. Die Seelen sind abhängig von dem Culte der noch im
Leben stehenden Mitglieder ihrer Familie, ihr Loos bestimmt
sich nach der Art dieses Cultes1). Völlig verschieden ist der
Glaube, in dem dieser Seelencult wurzelt, von der Vorstellungs-
weise der homerischen Gedichte, nach der die Seelen, fern
in das Reich des Hades gebannt, aller Pflege und Sorge der
Lebenden auf ewig entzogen sind; völlig verschieden auch von
dem Glauben, den die Mysterien ihren Gläubigen einpflanzten.
Denn nicht nach ihrem (religiösen oder moralischen) Ver-
dienste
empfängt hier die abgeschiedene Seele Vergeltung
im Jenseits. In geschiedenem Bette fliessen diese Glaubens-
richtungen neben einander her. Am nächsten berührt sich
ohne Frage der Seelencult und sein Glaubenskreis mit dem
Heroencult, aber der Unterschied ist dennoch ein grosser. Hier
ist nicht mehr von irgend einem, durch göttliches Wunder ver-
liehenen Privilegium einzelner Bevorzugter die Rede; jede Seele
hat Anspruch auf die sorgende Pflege der Ihrigen, einer jeden
wird ihr Loos bestimmt nicht nach ihrem besonderen Wesen
und ihrem Thun bei Leibesleben, sondern je nach dem Ver-
halten der Ueberlebenden zu ihr. Darum denkt beim Heran-
nahen des Todes ein jeder an sein „Seelenheil“, das heisst aber,
an den Cult, den er seiner, vom Leibe geschiedenen Seele
sichern möchte. Bisweilen bestimmt er zu diesem Zwecke eine

1) Ganz naiv spricht sich der Glaube aus in den Worten des Orestes
bei Aeschyl. Choeph. 483 ff. Er ruft der Seele des Vaters zu: οὕτω (wenn
du mir beistehst) γὰρ ἄν σοι δαῖτες ἔννομοι βροτῶν κτιζοίατ̕ · εἰ δὲ μὴ, παρ̕
εὐδείπνοις ἔσει ἄτιμος ὲμπύροισι κνισωτοῖς χϑονός. Und so gilt auch für alte
Zeit der von Lucian, de luctu 9 verhöhnte Glaube: τρέφονται δὲ ἄρα (die
Todten) ταῖς παρ̕ ἡμῖν χοαῖς καὶ τοῖς καϑαγιζομένοις ἐπὶ τῶν τάφων · ὡς εἴ
τῳ μὴ εἴη καταλελειμμένος ὑπὲρ γῆς φίλος ἢ συγγενής, ἄσιτος οὗτος νεκρὸς
καὶ λιμώττων ἐν αὐτοῖς πολιτεύεται.
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[228/0244] Maasse ihre Verehrung eingegeben durch ein Gefühl der Pietät, das nicht mehr auf eigenen Vortheil, sondern auf Ehre und Nutzen der verehrten Todten bedacht ist, und diese freilich eigenthümlich gefärbte Pietät giebt dem Seelencult und den ihm zu Grunde liegenden Vorstellungen erst ihre besondere Art. Die Seelen sind abhängig von dem Culte der noch im Leben stehenden Mitglieder ihrer Familie, ihr Loos bestimmt sich nach der Art dieses Cultes 1). Völlig verschieden ist der Glaube, in dem dieser Seelencult wurzelt, von der Vorstellungs- weise der homerischen Gedichte, nach der die Seelen, fern in das Reich des Hades gebannt, aller Pflege und Sorge der Lebenden auf ewig entzogen sind; völlig verschieden auch von dem Glauben, den die Mysterien ihren Gläubigen einpflanzten. Denn nicht nach ihrem (religiösen oder moralischen) Ver- dienste empfängt hier die abgeschiedene Seele Vergeltung im Jenseits. In geschiedenem Bette fliessen diese Glaubens- richtungen neben einander her. Am nächsten berührt sich ohne Frage der Seelencult und sein Glaubenskreis mit dem Heroencult, aber der Unterschied ist dennoch ein grosser. Hier ist nicht mehr von irgend einem, durch göttliches Wunder ver- liehenen Privilegium einzelner Bevorzugter die Rede; jede Seele hat Anspruch auf die sorgende Pflege der Ihrigen, einer jeden wird ihr Loos bestimmt nicht nach ihrem besonderen Wesen und ihrem Thun bei Leibesleben, sondern je nach dem Ver- halten der Ueberlebenden zu ihr. Darum denkt beim Heran- nahen des Todes ein jeder an sein „Seelenheil“, das heisst aber, an den Cult, den er seiner, vom Leibe geschiedenen Seele sichern möchte. Bisweilen bestimmt er zu diesem Zwecke eine 1) Ganz naiv spricht sich der Glaube aus in den Worten des Orestes bei Aeschyl. Choeph. 483 ff. Er ruft der Seele des Vaters zu: οὕτω (wenn du mir beistehst) γὰρ ἄν σοι δαῖτες ἔννομοι βροτῶν κτιζοίατ̕ · εἰ δὲ μὴ, παρ̕ εὐδείπνοις ἔσει ἄτιμος ὲμπύροισι κνισωτοῖς χϑονός. Und so gilt auch für alte Zeit der von Lucian, de luctu 9 verhöhnte Glaube: τρέφονται δὲ ἄρα (die Todten) ταῖς παρ̕ ἡμῖν χοαῖς καὶ τοῖς καϑαγιζομένοις ἐπὶ τῶν τάφων · ὡς εἴ τῳ μὴ εἴη καταλελειμμένος ὑπὲρ γῆς φίλος ἢ συγγενής, ἄσιτος οὗτος νεκρὸς καὶ λιμώττων ἐν αὐτοῖς πολιτεύεται.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/244>, abgerufen am 09.11.2024.