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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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greift der Staat tief in das alte, lediglich der Familie des Ge-
tödteten anheimgestellte Blutracherecht ein, in welchem, wie
man aus Homer schliessen muss, einzig die Thatsache des
gewaltsam herbeigeführten Todes des Verwandten, nicht aber
die Art und die Motive der Tödtung in Betracht gezogen
wurden. Den Mörder trifft Todesstrafe, der er sich vor Fällung
des Urtheils durch Flucht, von der keine Rückkehr gestattet ist,
entziehen kann. Er weicht aus dem Lande; an der Grenze
des Staates hört dessen Macht auf; aber auch die Macht der
zürnenden Seele, beschränkt auf ihre Heimath, wie die aller
an das Local ihrer Verehrung gefesselten Geister, reicht über
die Landesgrenze nicht hinaus. Wenn durch Flucht über die
Grenze "der Thäter sich dem von ihm Verletzten -- d. h. der
zürnenden Seele des Todten -- entzieht" 1), so ist er gerettet,
wenn auch nicht gerechtfertigt: dies allein ist der Sinn solcher
Erlaubniss freiwilliger Verbannung. Unfreiwillige Tödtung 2)
wird mit Verbannung auf eine begrenzte Zeit bestraft, nach
deren Ablauf die Verwandten des Erschlagenen dem Thäter,
bei seiner Rückkehr in's Vaterland, Verzeihung zu gewähren
haben 3), die sie ihm nach einstimmig zu fassendem Beschluss 4)
sogar vor Antritt der Verbannung, so dass diese ganz er-

1) khreon estin upexelthein to pathonti ton drasanta tas oras
pasas tou eniautou, kai eremosai pantas tous oikeious topous xumpases tes
patridos. Plato Leg. 9, 865 E. Das Gesetz gebietet den des Mordes
schuldig Erkannten eirgein men tes tou pathontos patridos, kteinein de oukh
osion apantakhou Demosth. 23, 38.
2) Eines Bürgers; ebenso beabsichtigter Mord eines Nichtbürgers.
S. M. und Sch. Att. Proc.2 p. 379 A. 520. -- Wo das Bürgerthum einer
Stadt auf Eroberung beruhte, mochte das Leben der unterworfenen alten
Landesbewohner noch geringer im Preise stehen. In Tralles (Karien)
konnte der Mord eines Lelegers durch einen der (argivischen) Vollbürger
durch Entrichtung eines Scheffels Erbsen (also eine rein symbolische
poine) an die Verwandten des Ermordeten abgekauft werden. Plut. Q.
Gr. 46.
3) Nach Ablauf der gesetzlich bestimmten Frist der Verbannung
scheinen die Verwandten des Getödteten aidesis nicht versagen gedurft
zu haben. S. Philippi, Areop. u. Epheten 115 f.
4) Gesetz bei Demosth. 43, 57.

greift der Staat tief in das alte, lediglich der Familie des Ge-
tödteten anheimgestellte Blutracherecht ein, in welchem, wie
man aus Homer schliessen muss, einzig die Thatsache des
gewaltsam herbeigeführten Todes des Verwandten, nicht aber
die Art und die Motive der Tödtung in Betracht gezogen
wurden. Den Mörder trifft Todesstrafe, der er sich vor Fällung
des Urtheils durch Flucht, von der keine Rückkehr gestattet ist,
entziehen kann. Er weicht aus dem Lande; an der Grenze
des Staates hört dessen Macht auf; aber auch die Macht der
zürnenden Seele, beschränkt auf ihre Heimath, wie die aller
an das Local ihrer Verehrung gefesselten Geister, reicht über
die Landesgrenze nicht hinaus. Wenn durch Flucht über die
Grenze „der Thäter sich dem von ihm Verletzten — d. h. der
zürnenden Seele des Todten — entzieht“ 1), so ist er gerettet,
wenn auch nicht gerechtfertigt: dies allein ist der Sinn solcher
Erlaubniss freiwilliger Verbannung. Unfreiwillige Tödtung 2)
wird mit Verbannung auf eine begrenzte Zeit bestraft, nach
deren Ablauf die Verwandten des Erschlagenen dem Thäter,
bei seiner Rückkehr in’s Vaterland, Verzeihung zu gewähren
haben 3), die sie ihm nach einstimmig zu fassendem Beschluss 4)
sogar vor Antritt der Verbannung, so dass diese ganz er-

1) χρεών ἐστιν ὑπεξελϑεῖν τῷ παϑόντι τὸν δράσαντα τὰς ὥρας
πάσας τοῦ ἐνιαυτοῦ, καὶ ἐρημῶσαι πάντας τοὺς οἰκείους τόπους ξυμπάσης τῆς
πατρίδος. Plato Leg. 9, 865 E. Das Gesetz gebietet den des Mordes
schuldig Erkannten εἴργειν μὲν τῆς τοῦ παϑόντος πατρίδος, κτείνειν δὲ οὐχ
ὅσιον ἁπανταχοῦ Demosth. 23, 38.
2) Eines Bürgers; ebenso beabsichtigter Mord eines Nichtbürgers.
S. M. und Sch. Att. Proc.2 p. 379 A. 520. — Wo das Bürgerthum einer
Stadt auf Eroberung beruhte, mochte das Leben der unterworfenen alten
Landesbewohner noch geringer im Preise stehen. In Tralles (Karien)
konnte der Mord eines Lelegers durch einen der (argivischen) Vollbürger
durch Entrichtung eines Scheffels Erbsen (also eine rein symbolische
ποινή) an die Verwandten des Ermordeten abgekauft werden. Plut. Q.
Gr. 46.
3) Nach Ablauf der gesetzlich bestimmten Frist der Verbannung
scheinen die Verwandten des Getödteten αἴδεσις nicht versagen gedurft
zu haben. S. Philippi, Areop. u. Epheten 115 f.
4) Gesetz bei Demosth. 43, 57.
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[242/0258] greift der Staat tief in das alte, lediglich der Familie des Ge- tödteten anheimgestellte Blutracherecht ein, in welchem, wie man aus Homer schliessen muss, einzig die Thatsache des gewaltsam herbeigeführten Todes des Verwandten, nicht aber die Art und die Motive der Tödtung in Betracht gezogen wurden. Den Mörder trifft Todesstrafe, der er sich vor Fällung des Urtheils durch Flucht, von der keine Rückkehr gestattet ist, entziehen kann. Er weicht aus dem Lande; an der Grenze des Staates hört dessen Macht auf; aber auch die Macht der zürnenden Seele, beschränkt auf ihre Heimath, wie die aller an das Local ihrer Verehrung gefesselten Geister, reicht über die Landesgrenze nicht hinaus. Wenn durch Flucht über die Grenze „der Thäter sich dem von ihm Verletzten — d. h. der zürnenden Seele des Todten — entzieht“ 1), so ist er gerettet, wenn auch nicht gerechtfertigt: dies allein ist der Sinn solcher Erlaubniss freiwilliger Verbannung. Unfreiwillige Tödtung 2) wird mit Verbannung auf eine begrenzte Zeit bestraft, nach deren Ablauf die Verwandten des Erschlagenen dem Thäter, bei seiner Rückkehr in’s Vaterland, Verzeihung zu gewähren haben 3), die sie ihm nach einstimmig zu fassendem Beschluss 4) sogar vor Antritt der Verbannung, so dass diese ganz er- 1) χρεών ἐστιν ὑπεξελϑεῖν τῷ παϑόντι τὸν δράσαντα τὰς ὥρας πάσας τοῦ ἐνιαυτοῦ, καὶ ἐρημῶσαι πάντας τοὺς οἰκείους τόπους ξυμπάσης τῆς πατρίδος. Plato Leg. 9, 865 E. Das Gesetz gebietet den des Mordes schuldig Erkannten εἴργειν μὲν τῆς τοῦ παϑόντος πατρίδος, κτείνειν δὲ οὐχ ὅσιον ἁπανταχοῦ Demosth. 23, 38. 2) Eines Bürgers; ebenso beabsichtigter Mord eines Nichtbürgers. S. M. und Sch. Att. Proc.2 p. 379 A. 520. — Wo das Bürgerthum einer Stadt auf Eroberung beruhte, mochte das Leben der unterworfenen alten Landesbewohner noch geringer im Preise stehen. In Tralles (Karien) konnte der Mord eines Lelegers durch einen der (argivischen) Vollbürger durch Entrichtung eines Scheffels Erbsen (also eine rein symbolische ποινή) an die Verwandten des Ermordeten abgekauft werden. Plut. Q. Gr. 46. 3) Nach Ablauf der gesetzlich bestimmten Frist der Verbannung scheinen die Verwandten des Getödteten αἴδεσις nicht versagen gedurft zu haben. S. Philippi, Areop. u. Epheten 115 f. 4) Gesetz bei Demosth. 43, 57.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/258>, abgerufen am 24.11.2024.