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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun,
bewusstlos, oder höchstens in dämmerndem Halbbewusstsein,
mit halber Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn
Fleisch, Knochen und Sehnen 1), das Zwerchfell, der Sitz aller
Geistes- und Willenskräfte -- alles dieses ist dahin; es war
an den jetzt vernichteten, einst sichtbaren Doppelgänger der
Psyche gebunden. Von einem "unsterblichen Leben" dieser
Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig.
Sie leben ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel;
und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur ewig
fortführen werden, wo stünde das bei Homer? Ueberdauert
die Psyche ihren sichtbaren Genossen, so ist sie doch kraft-
los ohne ihn: kann man sich vorstellen, dass ein sinnlich empfin-
dendes Volk sich die ewig gedacht habe, denen, wenn einmal
die Bestattung beendigt ist, weiter keinerlei Nahrung (im
Cultus oder sonst) zukommt und zukommen kann? --

So ist die homerische helle Welt befreit von Nacht-
gespenstern (denn selbst im Traume zeigt sich die Psyche nach
der Verbrennung des Leibes nicht mehr), von jenen unbegreif-

fortraffen zum Seelenreiche. Aber bei Homer ist von einer solchen Vor-
stellung nur in einer festgeprägten Redensart eine blasse Erinnerung er-
halten.
1) Von den Todten Od. 11, 219: ou gar eti sarkas te kai ostea
ines ekhousin. Die Worte liessen sich ja, rein der Ausdrucksform nach,
auch dahin verstehen, dass den Todten zwar Sehnen, ines, blieben, aber
keine Fleischtheile und Knochen, welche die Sehnen zusammenhalten
könnten. Wirklich fasst so die homerischen Worte Nauck auf, Mel.
Grecorom
. IV, p. 718. Aber eine Vorstellung von solchen "Schatten",
die zwar Sehnen, aber keinen aus Fleisch und Knochen gebildeten Leib
haben, wird sich Niemand machen können; um uns zu überzeugen, dass
Aeschylus aus den homerischen Worten eine so unfassbare Vorstellung
gewonnen habe, genügen die verderbt und ausserhalb ihres Zusammen-
hanges überlieferten Worte des Fragm. 229 keinenfalls. Dass der Dichter
jenes Verses der Nekyia nichts andres sagen wollte, als: Fleisch, Knochen
und Sehnen, die diese zusammenhalten könnten -- Alles ist vernichtet,
zeigt hinreichend die Fortsetzung: alla ta men te puros krateron menos
aithomenoio damna, epei ke prota lipe leuk ostea thumos, psukhe d eut oneiros
apoptamene pepotetai. Wie sollte denn das Feuer die Sehnen nicht mit
verzehrt haben?

Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun,
bewusstlos, oder höchstens in dämmerndem Halbbewusstsein,
mit halber Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn
Fleisch, Knochen und Sehnen 1), das Zwerchfell, der Sitz aller
Geistes- und Willenskräfte — alles dieses ist dahin; es war
an den jetzt vernichteten, einst sichtbaren Doppelgänger der
Psyche gebunden. Von einem „unsterblichen Leben“ dieser
Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig.
Sie leben ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel;
und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur ewig
fortführen werden, wo stünde das bei Homer? Ueberdauert
die Psyche ihren sichtbaren Genossen, so ist sie doch kraft-
los ohne ihn: kann man sich vorstellen, dass ein sinnlich empfin-
dendes Volk sich die ewig gedacht habe, denen, wenn einmal
die Bestattung beendigt ist, weiter keinerlei Nahrung (im
Cultus oder sonst) zukommt und zukommen kann? —

So ist die homerische helle Welt befreit von Nacht-
gespenstern (denn selbst im Traume zeigt sich die Psyche nach
der Verbrennung des Leibes nicht mehr), von jenen unbegreif-

fortraffen zum Seelenreiche. Aber bei Homer ist von einer solchen Vor-
stellung nur in einer festgeprägten Redensart eine blasse Erinnerung er-
halten.
1) Von den Todten Od. 11, 219: οὐ γὰρ ἔτι σάρκας τε καὶ ὀστέα
ἶνες ἔχουσιν. Die Worte liessen sich ja, rein der Ausdrucksform nach,
auch dahin verstehen, dass den Todten zwar Sehnen, ἶνες, blieben, aber
keine Fleischtheile und Knochen, welche die Sehnen zusammenhalten
könnten. Wirklich fasst so die homerischen Worte Nauck auf, Mél.
Grécorom
. IV, p. 718. Aber eine Vorstellung von solchen „Schatten“,
die zwar Sehnen, aber keinen aus Fleisch und Knochen gebildeten Leib
haben, wird sich Niemand machen können; um uns zu überzeugen, dass
Aeschylus aus den homerischen Worten eine so unfassbare Vorstellung
gewonnen habe, genügen die verderbt und ausserhalb ihres Zusammen-
hanges überlieferten Worte des Fragm. 229 keinenfalls. Dass der Dichter
jenes Verses der Nekyia nichts andres sagen wollte, als: Fleisch, Knochen
und Sehnen, die diese zusammenhalten könnten — Alles ist vernichtet,
zeigt hinreichend die Fortsetzung: ἀλλὰ τὰ μέν τε πυρὸς κρατερὸν μένος
αἰϑομένοιο δαμνᾷ, ἐπεί κε πρῶτα λίπῃ λεύκ̕ ὀστέα ϑυμός, ψυχὴ δ̕ ἠΰτ̕ ὄνειρος
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verzehrt haben?
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[10/0026] Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun, bewusstlos, oder höchstens in dämmerndem Halbbewusstsein, mit halber Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn Fleisch, Knochen und Sehnen 1), das Zwerchfell, der Sitz aller Geistes- und Willenskräfte — alles dieses ist dahin; es war an den jetzt vernichteten, einst sichtbaren Doppelgänger der Psyche gebunden. Von einem „unsterblichen Leben“ dieser Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig. Sie leben ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel; und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur ewig fortführen werden, wo stünde das bei Homer? Ueberdauert die Psyche ihren sichtbaren Genossen, so ist sie doch kraft- los ohne ihn: kann man sich vorstellen, dass ein sinnlich empfin- dendes Volk sich die ewig gedacht habe, denen, wenn einmal die Bestattung beendigt ist, weiter keinerlei Nahrung (im Cultus oder sonst) zukommt und zukommen kann? — So ist die homerische helle Welt befreit von Nacht- gespenstern (denn selbst im Traume zeigt sich die Psyche nach der Verbrennung des Leibes nicht mehr), von jenen unbegreif- 1) 1) Von den Todten Od. 11, 219: οὐ γὰρ ἔτι σάρκας τε καὶ ὀστέα ἶνες ἔχουσιν. Die Worte liessen sich ja, rein der Ausdrucksform nach, auch dahin verstehen, dass den Todten zwar Sehnen, ἶνες, blieben, aber keine Fleischtheile und Knochen, welche die Sehnen zusammenhalten könnten. Wirklich fasst so die homerischen Worte Nauck auf, Mél. Grécorom. IV, p. 718. Aber eine Vorstellung von solchen „Schatten“, die zwar Sehnen, aber keinen aus Fleisch und Knochen gebildeten Leib haben, wird sich Niemand machen können; um uns zu überzeugen, dass Aeschylus aus den homerischen Worten eine so unfassbare Vorstellung gewonnen habe, genügen die verderbt und ausserhalb ihres Zusammen- hanges überlieferten Worte des Fragm. 229 keinenfalls. Dass der Dichter jenes Verses der Nekyia nichts andres sagen wollte, als: Fleisch, Knochen und Sehnen, die diese zusammenhalten könnten — Alles ist vernichtet, zeigt hinreichend die Fortsetzung: ἀλλὰ τὰ μέν τε πυρὸς κρατερὸν μένος αἰϑομένοιο δαμνᾷ, ἐπεί κε πρῶτα λίπῃ λεύκ̕ ὀστέα ϑυμός, ψυχὴ δ̕ ἠΰτ̕ ὄνειρος ἀποπταμένη πεπότηται. Wie sollte denn das Feuer die Sehnen nicht mit verzehrt haben? 1) fortraffen zum Seelenreiche. Aber bei Homer ist von einer solchen Vor- stellung nur in einer festgeprägten Redensart eine blasse Erinnerung er- halten.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/26>, abgerufen am 21.11.2024.