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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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So verschwand auch Empfindung und Verständniss für den
Orgiasmus und seine zwingende Gewalt nicht. Noch schlägt
uns aus den "Bakchen" des Euripides der Zauberdunst enthu-
siastischer Erregung entgegen, wie er sinnverwirrend, Bewusst-
sein und Willen bindend, Jeden umfing, der sich in den Macht-
bereich dionysischer Wirkung verirrte. Wie ein wüthender
Wirbel im Strome den Schwimmenden, wie die räthselhafte
Eigenmacht des Traumes den Schlafenden, so packt ihn der
Geisterzwang, der von der Gegenwart des Gottes ausgeht und
treibt ihn wie er will. Alles verwandelt sich ihm, er selbst
scheint sich verwandelt. Jede einzelne Gestalt des Dramas
verfällt, wie sie in diesen Bannkreis tritt, dem heiligen Wahn-
sinn; noch heute lebt in den Blättern des Gedichtes etwas von
der Macht der Seelenüberwältigung dionysischer Orgien und
lässt eine Ahnung von diesen fremdartigen Zuständen in den
Leser übergehn.

Wohl als eine Nachwirkung der tiefen bakchantischen Er-
regung, die einst als Epidemie Griechenland durchflammt hatte
und noch immer in periodischer Wiederkehr in dionysischen
Nachtfeiern aufzuckte, verblieb dem griechischen Naturell eine
morbide Anlage, eine Neigung zu plötzlich kommenden und
wieder gehenden Störungen des normalen Vermögens der Wahr-
nehmung und Empfindung. Vereinzelte Nachrichten reden
uns von epidemisch ganze Städte ergreifenden Anfällen solches
vorübergehenden Wahnsinns 1). Eine den Aerzten und Psycho-
logen ganz geläufige Erscheinung war jene, nach den dämoni-
schen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte, religiös
gefärbte 2) Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne
äusseren Anlass der Leidende Gestalten seltsamer Art sah,

1) Vgl. die merkwürdigen Berichte des Plutarch, mul. virt. 249 B,
bei Gell. 15, 10, Polyaen. 8, 63; und des Lucian pos dei istorian
suggr. 1.
2) Anderer Art sind die mit ähnlichen Erscheinungen auftretenden,
aber der religiösen Färbung entbehrenden Formen vorübergehenden
Wahnsinns, die Aretaeus p. 82 K., Galen. VII p. 60. 61 (Fall des Theo-
philus) beschreiben.

So verschwand auch Empfindung und Verständniss für den
Orgiasmus und seine zwingende Gewalt nicht. Noch schlägt
uns aus den „Bakchen“ des Euripides der Zauberdunst enthu-
siastischer Erregung entgegen, wie er sinnverwirrend, Bewusst-
sein und Willen bindend, Jeden umfing, der sich in den Macht-
bereich dionysischer Wirkung verirrte. Wie ein wüthender
Wirbel im Strome den Schwimmenden, wie die räthselhafte
Eigenmacht des Traumes den Schlafenden, so packt ihn der
Geisterzwang, der von der Gegenwart des Gottes ausgeht und
treibt ihn wie er will. Alles verwandelt sich ihm, er selbst
scheint sich verwandelt. Jede einzelne Gestalt des Dramas
verfällt, wie sie in diesen Bannkreis tritt, dem heiligen Wahn-
sinn; noch heute lebt in den Blättern des Gedichtes etwas von
der Macht der Seelenüberwältigung dionysischer Orgien und
lässt eine Ahnung von diesen fremdartigen Zuständen in den
Leser übergehn.

Wohl als eine Nachwirkung der tiefen bakchantischen Er-
regung, die einst als Epidemie Griechenland durchflammt hatte
und noch immer in periodischer Wiederkehr in dionysischen
Nachtfeiern aufzuckte, verblieb dem griechischen Naturell eine
morbide Anlage, eine Neigung zu plötzlich kommenden und
wieder gehenden Störungen des normalen Vermögens der Wahr-
nehmung und Empfindung. Vereinzelte Nachrichten reden
uns von epidemisch ganze Städte ergreifenden Anfällen solches
vorübergehenden Wahnsinns 1). Eine den Aerzten und Psycho-
logen ganz geläufige Erscheinung war jene, nach den dämoni-
schen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte, religiös
gefärbte 2) Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne
äusseren Anlass der Leidende Gestalten seltsamer Art sah,

1) Vgl. die merkwürdigen Berichte des Plutarch, mul. virt. 249 B,
bei Gell. 15, 10, Polyaen. 8, 63; und des Lucian πῶς δεῖ ἱστορίαν
συγγρ. 1.
2) Anderer Art sind die mit ähnlichen Erscheinungen auftretenden,
aber der religiösen Färbung entbehrenden Formen vorübergehenden
Wahnsinns, die Aretaeus p. 82 K., Galen. VII p. 60. 61 (Fall des Theo-
philus) beschreiben.
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[335/0351] So verschwand auch Empfindung und Verständniss für den Orgiasmus und seine zwingende Gewalt nicht. Noch schlägt uns aus den „Bakchen“ des Euripides der Zauberdunst enthu- siastischer Erregung entgegen, wie er sinnverwirrend, Bewusst- sein und Willen bindend, Jeden umfing, der sich in den Macht- bereich dionysischer Wirkung verirrte. Wie ein wüthender Wirbel im Strome den Schwimmenden, wie die räthselhafte Eigenmacht des Traumes den Schlafenden, so packt ihn der Geisterzwang, der von der Gegenwart des Gottes ausgeht und treibt ihn wie er will. Alles verwandelt sich ihm, er selbst scheint sich verwandelt. Jede einzelne Gestalt des Dramas verfällt, wie sie in diesen Bannkreis tritt, dem heiligen Wahn- sinn; noch heute lebt in den Blättern des Gedichtes etwas von der Macht der Seelenüberwältigung dionysischer Orgien und lässt eine Ahnung von diesen fremdartigen Zuständen in den Leser übergehn. Wohl als eine Nachwirkung der tiefen bakchantischen Er- regung, die einst als Epidemie Griechenland durchflammt hatte und noch immer in periodischer Wiederkehr in dionysischen Nachtfeiern aufzuckte, verblieb dem griechischen Naturell eine morbide Anlage, eine Neigung zu plötzlich kommenden und wieder gehenden Störungen des normalen Vermögens der Wahr- nehmung und Empfindung. Vereinzelte Nachrichten reden uns von epidemisch ganze Städte ergreifenden Anfällen solches vorübergehenden Wahnsinns 1). Eine den Aerzten und Psycho- logen ganz geläufige Erscheinung war jene, nach den dämoni- schen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte, religiös gefärbte 2) Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne äusseren Anlass der Leidende Gestalten seltsamer Art sah, 1) Vgl. die merkwürdigen Berichte des Plutarch, mul. virt. 249 B, bei Gell. 15, 10, Polyaen. 8, 63; und des Lucian πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγρ. 1. 2) Anderer Art sind die mit ähnlichen Erscheinungen auftretenden, aber der religiösen Färbung entbehrenden Formen vorübergehenden Wahnsinns, die Aretaeus p. 82 K., Galen. VII p. 60. 61 (Fall des Theo- philus) beschreiben.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/351>, abgerufen am 22.11.2024.