Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver- breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen, nichts spüren liessen.
Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber- schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos- cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht- feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi- schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch- delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her- kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme- rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).
von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem "Koskohügel", Baubo en Tabarnei, Thettale pros to theatro). arkhaios khresmos, mit prosaischer Erläuterung, erneuert von Apolloneios Mokolles, arkhaios mustes (des Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten- den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ekstasis ver- fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-
Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver- breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen, nichts spüren liessen.
Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber- schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos- cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht- feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi- schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch- delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her- kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme- rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).
von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo ἐν Ταβάρνει, Thettale πρὸς τῷ ϑεάτρῳ). ἀρχαῖος χρησμός, mit prosaischer Erläuterung, erneuert von Ἀπολλώνειος Μοκόλλης, ἀρχαῖος μύστης (des Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten- den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver- fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0359"n="343"/>
Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen<lb/>
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere<lb/>
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-<lb/>
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen<lb/>
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von<lb/>
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,<lb/>
nichts spüren liessen.</p><lb/><p>Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-<lb/>
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten<lb/>
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle<lb/>
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des<lb/>
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst<lb/>
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult<lb/>
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten<lb/>
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im<lb/>
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-<lb/>
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-<lb/>
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-<lb/>
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen<lb/>
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-<lb/>
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-<lb/>
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals<lb/>
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-<lb/>
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb <notexml:id="seg2pn_112_1"next="#seg2pn_112_2"place="foot"n="1)">S. Rapp, <hirendition="#i">Rhein. Mus.</hi> 27, der indessen, bei der im Allgemeinen<lb/>
sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten-<lb/>
den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende<lb/>
und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische<lb/>
Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf<lb/>
eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver-<lb/>
fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in<lb/>
später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen<lb/>
Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-</note>.</p><lb/><p><notexml:id="seg2pn_111_2"prev="#seg2pn_111_1"place="foot"n="2)">von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo<lb/>ἐνΤαβάρνει, Thettale πρὸςτῷϑεάτρῳ). ἀρχαῖοςχρησμός, mit prosaischer<lb/>
Erläuterung, erneuert von ἈπολλώνειοςΜοκόλλης, ἀρχαῖοςμύστης (des<lb/>
Dionysos): <hirendition="#i">Mitth. d. arch. Inst. zu Athen</hi> 15 (1890) p. 331 f.</note></p></div><lb/></div></body></text></TEI>
[343/0359]
Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,
nichts spüren liessen.
Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).
2)
1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen
sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten-
den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende
und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische
Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf
eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver-
fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in
später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen
Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-
2) von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo
ἐν Ταβάρνει, Thettale πρὸς τῷ ϑεάτρῳ). ἀρχαῖος χρησμός, mit prosaischer
Erläuterung, erneuert von Ἀπολλώνειος Μοκόλλης, ἀρχαῖος μύστης (des
Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/359>, abgerufen am 18.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.