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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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stand des delphischen Religionswesens ist selbst nur ein Sym-
ptom einer solchen Bewegung, nicht ihre Ursache. Nun aber,
bestätigt durch den Gott selbst und die Erfahrungen, welche
die delphische Mantik vor Augen zu rücken schien, musste,
wie längst in dionysischem Glauben und Cult, auch in ächt
und ursprünglich griechischer Religion, der dieser von Anfang
an fremde Glaube sich vollends befestigen, dass ein Zustand
der aufs höchste angespannten Empfindung den Menschen über
den eingeschränkten Horizont seines gewöhnlichen Bewusstseins
zu der Höhe unbegrenzten Schauens und Wissens emporreissen
könne, dass menschlichen Seelen die Kraft, auf Momente,
wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben,
nicht versagt sei. Dieser Glaube ist der Quellpunkt aller
Mystik. Wie er in jenen Zeiten sich wirkend ausbreitete, lässt
die Ueberlieferung noch in einzelnen dunklen Spuren erkennen.

Zwar der öffentliche Gottesdienst griechischer Staaten hielt
sich, wo er nicht etwa durch fremdländische Einflüsse bestimmt
war, nach wie vor in engeren Schranken des Maasses und der
Klarheit. Wir hören wenig von dem Eindringen ekstatischer
Aufregung in altgriechischen Göttercult 1). Ein über jene
Schranken hinausstrebender religiöser Drang fand auf anderen
Wegen sein Genüge. Es standen Leute auf, die aus eigener
Bewegung unternahmen zwischen der Gottheit und dem be-
dürftigen einzelnen Menschen zu vermitteln, Naturen, muss

1) met orgiasmou begangen wurde der Cult des Zeus auf Kreta:
Strabo 10, 468. Ebenso an manchen Orten der Cult der unter dem Namen
Artemis zusammengefassten vielen und unter einander sehr verschiedenen
weiblichen Gottheiten (s. Lobeck Agl. 1085 ff.; Meineke Anal. Alex. 361),
wobei bisweilen (s. Welcker, Götterl. 2, 392 f.; Müller Dor. 1, 390 ff.), aber
keineswegs allemal asiatischer Einfluss mitwirkte. Orgiasmus auch im
Dienste des Pan. Sonst aber vorwiegend in fremdländischen, früh in
Privatculte eingedrungenen Götterdiensten, dem phrygischen Kybelecult
u. s. w. Diese flossen mit bakchischem Dienst leicht ununterscheidbar
zusammen, und verbanden sich auch mit ächt griechischen Culten bis-
weilen, wie denn namentlich Pan sowohl der Kybele als dem Dionys sehr
nahe gerückt wird. Dunkel bleibt, wie weit der kretische Zeuscult wirk-
lich mit phrygischen Elementen versetzt war.

stand des delphischen Religionswesens ist selbst nur ein Sym-
ptom einer solchen Bewegung, nicht ihre Ursache. Nun aber,
bestätigt durch den Gott selbst und die Erfahrungen, welche
die delphische Mantik vor Augen zu rücken schien, musste,
wie längst in dionysischem Glauben und Cult, auch in ächt
und ursprünglich griechischer Religion, der dieser von Anfang
an fremde Glaube sich vollends befestigen, dass ein Zustand
der aufs höchste angespannten Empfindung den Menschen über
den eingeschränkten Horizont seines gewöhnlichen Bewusstseins
zu der Höhe unbegrenzten Schauens und Wissens emporreissen
könne, dass menschlichen Seelen die Kraft, auf Momente,
wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben,
nicht versagt sei. Dieser Glaube ist der Quellpunkt aller
Mystik. Wie er in jenen Zeiten sich wirkend ausbreitete, lässt
die Ueberlieferung noch in einzelnen dunklen Spuren erkennen.

Zwar der öffentliche Gottesdienst griechischer Staaten hielt
sich, wo er nicht etwa durch fremdländische Einflüsse bestimmt
war, nach wie vor in engeren Schranken des Maasses und der
Klarheit. Wir hören wenig von dem Eindringen ekstatischer
Aufregung in altgriechischen Göttercult 1). Ein über jene
Schranken hinausstrebender religiöser Drang fand auf anderen
Wegen sein Genüge. Es standen Leute auf, die aus eigener
Bewegung unternahmen zwischen der Gottheit und dem be-
dürftigen einzelnen Menschen zu vermitteln, Naturen, muss

1) μετ̕ ὀργιασμοῦ begangen wurde der Cult des Zeus auf Kreta:
Strabo 10, 468. Ebenso an manchen Orten der Cult der unter dem Namen
Artemis zusammengefassten vielen und unter einander sehr verschiedenen
weiblichen Gottheiten (s. Lobeck Agl. 1085 ff.; Meineke Anal. Alex. 361),
wobei bisweilen (s. Welcker, Götterl. 2, 392 f.; Müller Dor. 1, 390 ff.), aber
keineswegs allemal asiatischer Einfluss mitwirkte. Orgiasmus auch im
Dienste des Pan. Sonst aber vorwiegend in fremdländischen, früh in
Privatculte eingedrungenen Götterdiensten, dem phrygischen Kybelecult
u. s. w. Diese flossen mit bakchischem Dienst leicht ununterscheidbar
zusammen, und verbanden sich auch mit ächt griechischen Culten bis-
weilen, wie denn namentlich Pan sowohl der Kybele als dem Dionys sehr
nahe gerückt wird. Dunkel bleibt, wie weit der kretische Zeuscult wirk-
lich mit phrygischen Elementen versetzt war.
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[350/0366] stand des delphischen Religionswesens ist selbst nur ein Sym- ptom einer solchen Bewegung, nicht ihre Ursache. Nun aber, bestätigt durch den Gott selbst und die Erfahrungen, welche die delphische Mantik vor Augen zu rücken schien, musste, wie längst in dionysischem Glauben und Cult, auch in ächt und ursprünglich griechischer Religion, der dieser von Anfang an fremde Glaube sich vollends befestigen, dass ein Zustand der aufs höchste angespannten Empfindung den Menschen über den eingeschränkten Horizont seines gewöhnlichen Bewusstseins zu der Höhe unbegrenzten Schauens und Wissens emporreissen könne, dass menschlichen Seelen die Kraft, auf Momente, wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben, nicht versagt sei. Dieser Glaube ist der Quellpunkt aller Mystik. Wie er in jenen Zeiten sich wirkend ausbreitete, lässt die Ueberlieferung noch in einzelnen dunklen Spuren erkennen. Zwar der öffentliche Gottesdienst griechischer Staaten hielt sich, wo er nicht etwa durch fremdländische Einflüsse bestimmt war, nach wie vor in engeren Schranken des Maasses und der Klarheit. Wir hören wenig von dem Eindringen ekstatischer Aufregung in altgriechischen Göttercult 1). Ein über jene Schranken hinausstrebender religiöser Drang fand auf anderen Wegen sein Genüge. Es standen Leute auf, die aus eigener Bewegung unternahmen zwischen der Gottheit und dem be- dürftigen einzelnen Menschen zu vermitteln, Naturen, muss 1) μετ̕ ὀργιασμοῦ begangen wurde der Cult des Zeus auf Kreta: Strabo 10, 468. Ebenso an manchen Orten der Cult der unter dem Namen Artemis zusammengefassten vielen und unter einander sehr verschiedenen weiblichen Gottheiten (s. Lobeck Agl. 1085 ff.; Meineke Anal. Alex. 361), wobei bisweilen (s. Welcker, Götterl. 2, 392 f.; Müller Dor. 1, 390 ff.), aber keineswegs allemal asiatischer Einfluss mitwirkte. Orgiasmus auch im Dienste des Pan. Sonst aber vorwiegend in fremdländischen, früh in Privatculte eingedrungenen Götterdiensten, dem phrygischen Kybelecult u. s. w. Diese flossen mit bakchischem Dienst leicht ununterscheidbar zusammen, und verbanden sich auch mit ächt griechischen Culten bis- weilen, wie denn namentlich Pan sowohl der Kybele als dem Dionys sehr nahe gerückt wird. Dunkel bleibt, wie weit der kretische Zeuscult wirk- lich mit phrygischen Elementen versetzt war.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/366>, abgerufen am 25.11.2024.