richtung doch in der Ausführung weit auseinanderliefen. Dies waren in immer neuer Steigerung wiederholte Versuche, die orphische Lehre im Zusammenhang aufzubauen. In unver- kennbarem Hinblick auf jene älteste griechische Theologie, die sich in dem hesiodischen Gedichte niedergeschlagen hatte, schilderten diese orphischen Theogonien Werden und Entwick- lung der Welt aus dunklen Urtrieben zu der klar umschrie- benen Mannichfaltigkeit des einheitlich geordneten Kosmos, als die Geschichte einer langen Reihe göttlicher Mächte und Ge- stalten, die aus einander hervorgehen, eine die andere über- winden, in Weltbildung und Weltregierung ablösen, in sich das All zurückschlingen, um es, aus Einem Geiste beseelt, und in aller unendlichen Vielheit Eines, wieder aus sich heraus- zusetzen. Diese Götter sind freilich nicht mehr Götter von altgriechischem Typus. Nicht nur die von orphischer Phan- tastik neu erschaffenen, unter symbolisch bedeutendem Beiwerk deutlicher sinnlicher Vorstellung fast entzogenen Götterwesen, auch die aus griechischer Götterwelt entlehnten Gestalten sind hier wenig mehr als personificirte Begriffe. Wer könnte den Gott Homers wiedererkennen in dem orphischen Zeus, der, nachdem er den Allgott verschlungen und "in sich gefasst hat die Kraft des Erikapaios" 1) nun selbst das All der Welt ist: "Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist Alles vollendet" 2).
(Orph. fr. 243) stimmt auch die Reihenfolge der Götterkönige überein, die "Orpheus" feststellte nach Nigid. Fig. bei Serv. ad V. ecl. 4, 10 (fr. 248). Doch muss diese Bemerkung nicht nothwendig aus einer "Theo- gonie" des O. genommen sein.
1) (Zeus) -- protogonoio khanon menos Erikepaiou, ton panton demas eikhen ee eni gasteri koile fr. 120 (aus den Rhapsodien). khanon schreibt man mit Zoega (Abh. 262 f.): aber khanon heisst nicht "erschnappend oder verschlingend" (Zoega), höchstens, in schlechtem Spätgriechisch, das Gegen- theil: fahren lassend (transitiv). Auch Lobeck's (Agl. 519 Anm.) Auskunft genügt nicht. Es hiess wohl ursprünglich khadon.
2) Der Vers kam in verschiedenen Gestaltungen des theogonischen Gedichtes vor: fr. 33 (Plato?) 46 (Ps. aristot. de mundo) 123 (Rhapsod.). Lobeck Agl. 520--532. Es scheint doch gewiss (denn Gruppe's Zweifel, Rhaps. Theog. 704 ff. gehen zu weit), dass schon in alten Fassungen der orphischen Theogonie der Vers (Zeus kephale ktl.: denn das war, wie
richtung doch in der Ausführung weit auseinanderliefen. Dies waren in immer neuer Steigerung wiederholte Versuche, die orphische Lehre im Zusammenhang aufzubauen. In unver- kennbarem Hinblick auf jene älteste griechische Theologie, die sich in dem hesiodischen Gedichte niedergeschlagen hatte, schilderten diese orphischen Theogonien Werden und Entwick- lung der Welt aus dunklen Urtrieben zu der klar umschrie- benen Mannichfaltigkeit des einheitlich geordneten Kosmos, als die Geschichte einer langen Reihe göttlicher Mächte und Ge- stalten, die aus einander hervorgehen, eine die andere über- winden, in Weltbildung und Weltregierung ablösen, in sich das All zurückschlingen, um es, aus Einem Geiste beseelt, und in aller unendlichen Vielheit Eines, wieder aus sich heraus- zusetzen. Diese Götter sind freilich nicht mehr Götter von altgriechischem Typus. Nicht nur die von orphischer Phan- tastik neu erschaffenen, unter symbolisch bedeutendem Beiwerk deutlicher sinnlicher Vorstellung fast entzogenen Götterwesen, auch die aus griechischer Götterwelt entlehnten Gestalten sind hier wenig mehr als personificirte Begriffe. Wer könnte den Gott Homers wiedererkennen in dem orphischen Zeus, der, nachdem er den Allgott verschlungen und „in sich gefasst hat die Kraft des Erikapaios“ 1) nun selbst das All der Welt ist: „Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist Alles vollendet“ 2).
(Orph. fr. 243) stimmt auch die Reihenfolge der Götterkönige überein, die „Orpheus“ feststellte nach Nigid. Fig. bei Serv. ad V. ecl. 4, 10 (fr. 248). Doch muss diese Bemerkung nicht nothwendig aus einer „Theo- gonie“ des O. genommen sein.
1) (Zeus) — πρωτογόνοιο χανὸν μένος Ἠρικεπαίου, τῶν πάντων δέμας εἶχεν ἑῇ ὲνὶ γαστέρι κοίλῃ fr. 120 (aus den Rhapsodien). χανὼν schreibt man mit Zoëga (Abh. 262 f.): aber χανὼν heisst nicht „erschnappend oder verschlingend“ (Zoëga), höchstens, in schlechtem Spätgriechisch, das Gegen- theil: fahren lassend (transitiv). Auch Lobeck’s (Agl. 519 Anm.) Auskunft genügt nicht. Es hiess wohl ursprünglich χαδών.
2) Der Vers kam in verschiedenen Gestaltungen des theogonischen Gedichtes vor: fr. 33 (Plato?) 46 (Ps. aristot. de mundo) 123 (Rhapsod.). Lobeck Agl. 520—532. Es scheint doch gewiss (denn Gruppe’s Zweifel, Rhaps. Theog. 704 ff. gehen zu weit), dass schon in alten Fassungen der orphischen Theogonie der Vers (Ζεὺς κεφαλὴ κτλ.: denn das war, wie
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richtung doch in der Ausführung weit auseinanderliefen. Dies
waren in immer neuer Steigerung wiederholte Versuche, die
orphische Lehre im Zusammenhang aufzubauen. In unver-
kennbarem Hinblick auf jene älteste griechische Theologie, die
sich in dem hesiodischen Gedichte niedergeschlagen hatte,
schilderten diese orphischen Theogonien Werden und Entwick-
lung der Welt aus dunklen Urtrieben zu der klar umschrie-
benen Mannichfaltigkeit des einheitlich geordneten Kosmos, als
die Geschichte einer langen Reihe göttlicher Mächte und Ge-
stalten, die aus einander hervorgehen, eine die andere über-
winden, in Weltbildung und Weltregierung ablösen, in sich
das All zurückschlingen, um es, aus Einem Geiste beseelt,
und in aller unendlichen Vielheit Eines, wieder aus sich heraus-
zusetzen. Diese Götter sind freilich nicht mehr Götter von
altgriechischem Typus. Nicht nur die von orphischer Phan-
tastik neu erschaffenen, unter symbolisch bedeutendem Beiwerk
deutlicher sinnlicher Vorstellung fast entzogenen Götterwesen,
auch die aus griechischer Götterwelt entlehnten Gestalten sind
hier wenig mehr als personificirte Begriffe. Wer könnte den
Gott Homers wiedererkennen in dem orphischen Zeus, der,
nachdem er den Allgott verschlungen und „in sich gefasst hat
die Kraft des Erikapaios“ 1) nun selbst das All der Welt ist:
„Anfang Zeus, Zeus Mitte, in Zeus ist Alles vollendet“ 2).
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1) (Zeus) — πρωτογόνοιο χανὸν μένος Ἠρικεπαίου, τῶν πάντων δέμας
εἶχεν ἑῇ ὲνὶ γαστέρι κοίλῃ fr. 120 (aus den Rhapsodien). χανὼν schreibt
man mit Zoëga (Abh. 262 f.): aber χανὼν heisst nicht „erschnappend oder
verschlingend“ (Zoëga), höchstens, in schlechtem Spätgriechisch, das Gegen-
theil: fahren lassend (transitiv). Auch Lobeck’s (Agl. 519 Anm.) Auskunft
genügt nicht. Es hiess wohl ursprünglich χαδών.
2) Der Vers kam in verschiedenen Gestaltungen des theogonischen
Gedichtes vor: fr. 33 (Plato?) 46 (Ps. aristot. de mundo) 123 (Rhapsod.).
Lobeck Agl. 520—532. Es scheint doch gewiss (denn Gruppe’s Zweifel,
Rhaps. Theog. 704 ff. gehen zu weit), dass schon in alten Fassungen der
orphischen Theogonie der Vers (Ζεὺς κεφαλὴ κτλ.: denn das war, wie
3) (Orph. fr. 243) stimmt auch die Reihenfolge der Götterkönige überein,
die „Orpheus“ feststellte nach Nigid. Fig. bei Serv. ad V. ecl. 4, 10
(fr. 248). Doch muss diese Bemerkung nicht nothwendig aus einer „Theo-
gonie“ des O. genommen sein.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/421>, abgerufen am 26.06.2024.
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