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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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keiten der Götter, von denen sie berichtete, nicht ganz zu
durchsichtigen allegorischen Schemen zergangen waren 1). In der
Hauptsache herrschte hier die Speculation, ohne Rücksicht auf
die Religion, und eben darum unbeschränkt im freien Wechsel
ihrer Gedankengebilde.

Aber die speculative Dichtung lief aus in eine religiöse,
für Glauben und Cult der Secte unmittelbar bedeutende Er-
zählung. Am Ende der genealogisch sich entwickelnden Götter-
reihe stand der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos,
mit dem Namen des Unterweltgottes Zagreus benannt 2), dem

togonos, hier, wie es scheint von Phanes, dem diese orphische Gestalt
meistens gleichgesetzt wird, unterschieden): s. Comparetti in den Notizie
degli scavi di antichita
1879 p. 157; 1880 p. 156. Damit ist das Dasein
dieser Erfindung orphischer Mythologie mindestens schon für das dritte
Jahrhundert vor Chr. (dem jene Täfelchen anzugehören scheinen) bezeugt.
-- Und so wird man die Berichte der Rhapsodien, wenigstens da mit
einiger Zuversicht für die Reconstruirung orphischer Dichtung und Lehre
verwenden können, wo sich ein Anschluss derselben an ältere Lehren
und Phantasien orphischer Theologie nachweisen lässt.
1) Die religiöse Bedeutung der Götter muss es vornehmlich gewesen
sein, die ihnen ihre Person, selbst in dieser symbolisirenden Dichtung,
erhielt, verhinderte, dass sie ganz und gar nur Personificationen von Be-
griffen oder elementarischen Kräften wurden, auf welche die Religion
weiter gar keine Beziehung hätte haben können.
2) In den Berichten der Neoplatoniker heisst dieser erste orphische
Dionysos stets Dionusos kurzweg (auch wohl Bakkhos: fr. 122). Nonnus, die
orphische Sage ausführend, nennt ihn Zagreus: Dion. 6, 165: (Perse-
phone) Zagrea geinamene, mit deutlicher Anspielung auf Kallimachus,
fr. 171: uia Dionuson Zagrea geinamene. Kall. scheint dort, wie auch sonst,
die orphische Fabel im Sinne zu haben. Dionuson ton kai Zagrea
kaloumenon nennt den Gott der orphischen Sage Tzetzes zu Lyk. 355.
Zagreus, der grosse Jäger, ist ein Name des alles dahinraffenden Hades.
So noch Alkmaeonis fr. 3. Mit dem Dionysos der nächtlichen Schwarm-
feste wird Z. identificirt bei Euripides Kret. fr. 472, 10 (anspielend auch
Bacch. 1181 Kirchh.). Vgl. auch oben p. 306 A. Dionysos ist dann eben
als ein khthonios gefasst (s. Hesych. s. Zagreus), und das war den Dichtern,
die ihn zum Sohn der Persephone machten, zweifellos vollkommen gegen-
wärtig: khthonios o tes Pesephones Dionusos (Harpocr. s. leuke). Sie hatten
ein ebenso klares Bewusstsein wie Heraklit davon, dass outos Aides kai
Dionusos, während ohne Zweifel in den Begehungen des öffentlichen
Dionysoscultes (auf welche doch wohl Heraklits Wort sich bezieht)

keiten der Götter, von denen sie berichtete, nicht ganz zu
durchsichtigen allegorischen Schemen zergangen waren 1). In der
Hauptsache herrschte hier die Speculation, ohne Rücksicht auf
die Religion, und eben darum unbeschränkt im freien Wechsel
ihrer Gedankengebilde.

Aber die speculative Dichtung lief aus in eine religiöse,
für Glauben und Cult der Secte unmittelbar bedeutende Er-
zählung. Am Ende der genealogisch sich entwickelnden Götter-
reihe stand der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos,
mit dem Namen des Unterweltgottes Zagreus benannt 2), dem

τόγονος, hier, wie es scheint von Phanes, dem diese orphische Gestalt
meistens gleichgesetzt wird, unterschieden): s. Comparetti in den Notizie
degli scavi di antichità
1879 p. 157; 1880 p. 156. Damit ist das Dasein
dieser Erfindung orphischer Mythologie mindestens schon für das dritte
Jahrhundert vor Chr. (dem jene Täfelchen anzugehören scheinen) bezeugt.
— Und so wird man die Berichte der Rhapsodien, wenigstens da mit
einiger Zuversicht für die Reconstruirung orphischer Dichtung und Lehre
verwenden können, wo sich ein Anschluss derselben an ältere Lehren
und Phantasien orphischer Theologie nachweisen lässt.
1) Die religiöse Bedeutung der Götter muss es vornehmlich gewesen
sein, die ihnen ihre Person, selbst in dieser symbolisirenden Dichtung,
erhielt, verhinderte, dass sie ganz und gar nur Personificationen von Be-
griffen oder elementarischen Kräften wurden, auf welche die Religion
weiter gar keine Beziehung hätte haben können.
2) In den Berichten der Neoplatoniker heisst dieser erste orphische
Dionysos stets Διόνυσος kurzweg (auch wohl Βάκχος: fr. 122). Nonnus, die
orphische Sage ausführend, nennt ihn Zagreus: Dion. 6, 165: (Perse-
phone) Ζαγρέα γειναμένη, mit deutlicher Anspielung auf Kallimachus,
fr. 171: υἶα Διώνυσον Ζαγρέα γειναμένη. Kall. scheint dort, wie auch sonst,
die orphische Fabel im Sinne zu haben. Διόνυσον τὸν καὶ Ζαγρέα
καλούμενον nennt den Gott der orphischen Sage Tzetzes zu Lyk. 355.
Ζαγρεύς, der grosse Jäger, ist ein Name des alles dahinraffenden Hades.
So noch Alkmaeonis fr. 3. Mit dem Dionysos der nächtlichen Schwarm-
feste wird Z. identificirt bei Euripides Kret. fr. 472, 10 (anspielend auch
Bacch. 1181 Kirchh.). Vgl. auch oben p. 306 A. Dionysos ist dann eben
als ein χϑόνιος gefasst (s. Hesych. s. Ζαγρεύς), und das war den Dichtern,
die ihn zum Sohn der Persephone machten, zweifellos vollkommen gegen-
wärtig: χϑόνιος ὁ τῆς Πεσεφόνης Διόνυσος (Harpocr. s. λεύκη). Sie hatten
ein ebenso klares Bewusstsein wie Heraklit davon, dass ὡυτὸς Ἅιδης καὶ
Διόνυσος, während ohne Zweifel in den Begehungen des öffentlichen
Dionysoscultes (auf welche doch wohl Heraklits Wort sich bezieht)
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[409/0425] keiten der Götter, von denen sie berichtete, nicht ganz zu durchsichtigen allegorischen Schemen zergangen waren 1). In der Hauptsache herrschte hier die Speculation, ohne Rücksicht auf die Religion, und eben darum unbeschränkt im freien Wechsel ihrer Gedankengebilde. Aber die speculative Dichtung lief aus in eine religiöse, für Glauben und Cult der Secte unmittelbar bedeutende Er- zählung. Am Ende der genealogisch sich entwickelnden Götter- reihe stand der Sohn des Zeus und der Persephone, Dionysos, mit dem Namen des Unterweltgottes Zagreus benannt 2), dem 2) 1) Die religiöse Bedeutung der Götter muss es vornehmlich gewesen sein, die ihnen ihre Person, selbst in dieser symbolisirenden Dichtung, erhielt, verhinderte, dass sie ganz und gar nur Personificationen von Be- griffen oder elementarischen Kräften wurden, auf welche die Religion weiter gar keine Beziehung hätte haben können. 2) In den Berichten der Neoplatoniker heisst dieser erste orphische Dionysos stets Διόνυσος kurzweg (auch wohl Βάκχος: fr. 122). Nonnus, die orphische Sage ausführend, nennt ihn Zagreus: Dion. 6, 165: (Perse- phone) Ζαγρέα γειναμένη, mit deutlicher Anspielung auf Kallimachus, fr. 171: υἶα Διώνυσον Ζαγρέα γειναμένη. Kall. scheint dort, wie auch sonst, die orphische Fabel im Sinne zu haben. Διόνυσον τὸν καὶ Ζαγρέα καλούμενον nennt den Gott der orphischen Sage Tzetzes zu Lyk. 355. Ζαγρεύς, der grosse Jäger, ist ein Name des alles dahinraffenden Hades. So noch Alkmaeonis fr. 3. Mit dem Dionysos der nächtlichen Schwarm- feste wird Z. identificirt bei Euripides Kret. fr. 472, 10 (anspielend auch Bacch. 1181 Kirchh.). Vgl. auch oben p. 306 A. Dionysos ist dann eben als ein χϑόνιος gefasst (s. Hesych. s. Ζαγρεύς), und das war den Dichtern, die ihn zum Sohn der Persephone machten, zweifellos vollkommen gegen- wärtig: χϑόνιος ὁ τῆς Πεσεφόνης Διόνυσος (Harpocr. s. λεύκη). Sie hatten ein ebenso klares Bewusstsein wie Heraklit davon, dass ὡυτὸς Ἅιδης καὶ Διόνυσος, während ohne Zweifel in den Begehungen des öffentlichen Dionysoscultes (auf welche doch wohl Heraklits Wort sich bezieht) 2) τόγονος, hier, wie es scheint von Phanes, dem diese orphische Gestalt meistens gleichgesetzt wird, unterschieden): s. Comparetti in den Notizie degli scavi di antichità 1879 p. 157; 1880 p. 156. Damit ist das Dasein dieser Erfindung orphischer Mythologie mindestens schon für das dritte Jahrhundert vor Chr. (dem jene Täfelchen anzugehören scheinen) bezeugt. — Und so wird man die Berichte der Rhapsodien, wenigstens da mit einiger Zuversicht für die Reconstruirung orphischer Dichtung und Lehre verwenden können, wo sich ein Anschluss derselben an ältere Lehren und Phantasien orphischer Theologie nachweisen lässt.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/425>, abgerufen am 22.11.2024.