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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Aber die Tiefe giebt zuletzt die Seele dem Lichte zurück,
drunten ist ihres Bleibens nicht. Dort lebt sie nur in der
Zwischenzeit, die den Tod von der nächsten Wiedergeburt
trennt. Den Verworfenen ist dies eine Zeit der Läuterung
und Strafe; mit dem grässlich lastenden Gedanken ewiger
Höllenstrafen können die Orphiker ihre Gläubigen noch nicht
beschwert haben. Denn wieder und wieder steigt die Seele ans
Licht hinauf, um in immer neuen Verkörperungen den Kreis
der Geburten zu vollenden. Nach ihren Thaten im früheren
Leben wird ihr im nächsten Leben vergolten werden; was er
damals Anderen gethan, genau dieses wird der Mensch jetzt
erleiden müssen 1). So erst zahlt er volle Busse für alte Schuld;
der "dreimal alte Spruch": was du gethan, erleide, bewahr-
heitet sich an ihm noch in ganz anderer Lebendigkeit als durch
alle Qualen im Schattenreiche geschehen könnte. So wird
sicherlich auch dem Reinen durch steigendes Glück in künf-
tigen Geburten gelohnt. Wie sich die Stufenleiter des Glückes
phantastisch aufbaute, entgeht unserer Kenntniss 2).

Die Seele ist unsterblich; auch der Sünder und Unerlöste
kann nicht untergehn, Hades und Erdenleben hält sie in
ewigem Kreislauf gebannt, und das ist ihre Strafe. Aber der

(vgl. fr. 267). Aber Musaeos, wie er bei Plato stets eng mit Orpheus
verbunden vorkommt (Rep. 2, 364 E; Prot. 316 D; Apol. 41 A; Ion
536 B), vertritt zweifellos auch hier orphische Dichtung (unter seinem
Namen hatte man eine Litteratur wesentlich orphischen Charakters). Und
so scheint Plutarch, Compar. Cim. et Lucull. 1 mit Recht dem bei Plato
genannten Mousaios einfach ton Orphea zu substituiren.
1) Plat. Leg. 9, 870 DE; genauer ausgeführt für einen einzelnen
Fall, aus gleicher Quelle (nomo -- to nun de [= p. 870 DE] lekhthenti),
p. 872 DE, 873 A. -- Die Vorstellung ist populär. Oft wird in Rache-
flüchen dem Thäter genau das angewünscht, was er den Andern erleiden
macht. Beispiele aus Sophokles (am nachdrücklichsten Trach. 1039 f.) bei
G. Wolff zu Soph. Aias 839. Aeschyl. Choeph. 309 ff. Agam. 1430. --
Neoplatonisch: Plotin. 42, 13 p. 333 Kchh. Porphyr. und Jamblich. bei
Aeneas Gaz. Theophr. p. 18.
2) Man darf aber glauben, dass die Phantasien der Orphiker hier den
Ausführungen des Empedokles, Plato u. A. über die Reihenfolge der
Geburten ähnlich waren.

Aber die Tiefe giebt zuletzt die Seele dem Lichte zurück,
drunten ist ihres Bleibens nicht. Dort lebt sie nur in der
Zwischenzeit, die den Tod von der nächsten Wiedergeburt
trennt. Den Verworfenen ist dies eine Zeit der Läuterung
und Strafe; mit dem grässlich lastenden Gedanken ewiger
Höllenstrafen können die Orphiker ihre Gläubigen noch nicht
beschwert haben. Denn wieder und wieder steigt die Seele ans
Licht hinauf, um in immer neuen Verkörperungen den Kreis
der Geburten zu vollenden. Nach ihren Thaten im früheren
Leben wird ihr im nächsten Leben vergolten werden; was er
damals Anderen gethan, genau dieses wird der Mensch jetzt
erleiden müssen 1). So erst zahlt er volle Busse für alte Schuld;
der „dreimal alte Spruch“: was du gethan, erleide, bewahr-
heitet sich an ihm noch in ganz anderer Lebendigkeit als durch
alle Qualen im Schattenreiche geschehen könnte. So wird
sicherlich auch dem Reinen durch steigendes Glück in künf-
tigen Geburten gelohnt. Wie sich die Stufenleiter des Glückes
phantastisch aufbaute, entgeht unserer Kenntniss 2).

Die Seele ist unsterblich; auch der Sünder und Unerlöste
kann nicht untergehn, Hades und Erdenleben hält sie in
ewigem Kreislauf gebannt, und das ist ihre Strafe. Aber der

(vgl. fr. 267). Aber Musaeos, wie er bei Plato stets eng mit Orpheus
verbunden vorkommt (Rep. 2, 364 E; Prot. 316 D; Apol. 41 A; Ion
536 B), vertritt zweifellos auch hier orphische Dichtung (unter seinem
Namen hatte man eine Litteratur wesentlich orphischen Charakters). Und
so scheint Plutarch, Compar. Cim. et Lucull. 1 mit Recht dem bei Plato
genannten Μουσαῖος einfach τὸν Ὀρφέα zu substituiren.
1) Plat. Leg. 9, 870 DE; genauer ausgeführt für einen einzelnen
Fall, aus gleicher Quelle (νόμῳ — τῷ νῦν δή [= p. 870 DE] λεχϑέντι),
p. 872 DE, 873 A. — Die Vorstellung ist populär. Oft wird in Rache-
flüchen dem Thäter genau das angewünscht, was er den Andern erleiden
macht. Beispiele aus Sophokles (am nachdrücklichsten Trach. 1039 f.) bei
G. Wolff zu Soph. Aias 839. Aeschyl. Choeph. 309 ff. Agam. 1430. —
Neoplatonisch: Plotin. 42, 13 p. 333 Kchh. Porphyr. und Jamblich. bei
Aeneas Gaz. Theophr. p. 18.
2) Man darf aber glauben, dass die Phantasien der Orphiker hier den
Ausführungen des Empedokles, Plato u. A. über die Reihenfolge der
Geburten ähnlich waren.
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[422/0438] Aber die Tiefe giebt zuletzt die Seele dem Lichte zurück, drunten ist ihres Bleibens nicht. Dort lebt sie nur in der Zwischenzeit, die den Tod von der nächsten Wiedergeburt trennt. Den Verworfenen ist dies eine Zeit der Läuterung und Strafe; mit dem grässlich lastenden Gedanken ewiger Höllenstrafen können die Orphiker ihre Gläubigen noch nicht beschwert haben. Denn wieder und wieder steigt die Seele ans Licht hinauf, um in immer neuen Verkörperungen den Kreis der Geburten zu vollenden. Nach ihren Thaten im früheren Leben wird ihr im nächsten Leben vergolten werden; was er damals Anderen gethan, genau dieses wird der Mensch jetzt erleiden müssen 1). So erst zahlt er volle Busse für alte Schuld; der „dreimal alte Spruch“: was du gethan, erleide, bewahr- heitet sich an ihm noch in ganz anderer Lebendigkeit als durch alle Qualen im Schattenreiche geschehen könnte. So wird sicherlich auch dem Reinen durch steigendes Glück in künf- tigen Geburten gelohnt. Wie sich die Stufenleiter des Glückes phantastisch aufbaute, entgeht unserer Kenntniss 2). Die Seele ist unsterblich; auch der Sünder und Unerlöste kann nicht untergehn, Hades und Erdenleben hält sie in ewigem Kreislauf gebannt, und das ist ihre Strafe. Aber der 7) 1) Plat. Leg. 9, 870 DE; genauer ausgeführt für einen einzelnen Fall, aus gleicher Quelle (νόμῳ — τῷ νῦν δή [= p. 870 DE] λεχϑέντι), p. 872 DE, 873 A. — Die Vorstellung ist populär. Oft wird in Rache- flüchen dem Thäter genau das angewünscht, was er den Andern erleiden macht. Beispiele aus Sophokles (am nachdrücklichsten Trach. 1039 f.) bei G. Wolff zu Soph. Aias 839. Aeschyl. Choeph. 309 ff. Agam. 1430. — Neoplatonisch: Plotin. 42, 13 p. 333 Kchh. Porphyr. und Jamblich. bei Aeneas Gaz. Theophr. p. 18. 2) Man darf aber glauben, dass die Phantasien der Orphiker hier den Ausführungen des Empedokles, Plato u. A. über die Reihenfolge der Geburten ähnlich waren. 7) (vgl. fr. 267). Aber Musaeos, wie er bei Plato stets eng mit Orpheus verbunden vorkommt (Rep. 2, 364 E; Prot. 316 D; Apol. 41 A; Ion 536 B), vertritt zweifellos auch hier orphische Dichtung (unter seinem Namen hatte man eine Litteratur wesentlich orphischen Charakters). Und so scheint Plutarch, Compar. Cim. et Lucull. 1 mit Recht dem bei Plato genannten Μουσαῖος einfach τὸν Ὀρφέα zu substituiren.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/438>, abgerufen am 22.11.2024.