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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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5.

Dies ist im Aufbau der orphischen Religion der alles zu-
sammenhaltende Schlussstein: der Glaube an die göttlich un-
sterbliche Lebenskraft der Seele, der die Verbindung mit dem
Leibe und seinen Trieben eine hemmende Fessel, eine Strafe
ist, deren sie, zu vollem Verständniss ihrer selbst erweckt, ledig
zu werden strebt, um in freier Kraft ganz sich selbst anzu-
gehören. Deutlich ist der volle Gegensatz dieses Glaubens zu
den Vorstellungen homerischer Welt, die der von den Kräften
des Leibes verlassenen Seele nur ein schwaches Schattenleben
bei halbem Bewusstsein zutraute, und eine Ewigkeit götter-
gleich vollkräftigen Lebens nur da sich denken konnte, wo
Leib und Seele, das zwiefache Ich des Menschen in unlösbarer
Gemeinschaft dem Reiche der Sterblichkeit entrückt wäre.
Grund und Ursprung des so ganz anders gearteten orphischen
Seelenglaubens lehren die orphischen Sagen von der Entstehung
des Menschengeschlechts uns nicht kennen: denn sie zeigen
nur den Weg -- einen von mehreren Wegen 1) -- auf dem

1) Die orphischen Dichtungen müssen in dem Bericht von der Be-
handlung der Glieder des zerrissenen Zagreus-Dionysos uneinig gewesen
sein. Die Zerreissung des Gottes durch die Titanen scheint allen Ver-
sionen des theogonischen Gedichtes gemeinsam gewesen zu sein (s. oben
p. 411). Während aber nach der einen Darstellung die Titanen den
Gott verschlingen (ausser dem Herzen) und aus dem dionysisch-titanischen
Gehalte ihrer durch Blitz zerstörten Leiber das Menschengeschlecht ent-
steht (s. oben p. 413, 1), erzählen andere, dass die zerrissenen Glieder des
Gottes von Zeus dem Apollo gebracht und von diesem "am Parnass" d. h.
zu Delphi beigesetzt wurden (s. Orph. fr. 200 [Clem. Alex.]; so Kalli-
machos, fr. 374). Die Rhapsodien führten die erste Version aus, ent-
hielten aber auch einen der zweiten ähnlichen Bericht (s. fr. 203. 204:
das enizein ta meristhenta tou Dionusou mele durch Apollo bezieht sich
dort wohl auf die Anpassung der erhaltenen Glieder an einander zum
Begräbniss, nicht auf eine Neubelebung des Todten. So auch vermuth-
lich die Dionusou melon kolleseis bei Julian. adv. christ. p. 167, 7 Neum.
Aber von Wiederbelebung des nach der Zerreissung suntithemenou Dionysos
redet Orig. adv. Cels. 4, 17 p. 21 Lomm.). Wo sie allein vorkommt,
schliesst die zweite Version die Anthropogonie aus der Titanenasche aus.
Es ist nicht zu verkennen, dass (wie schon K. O. Müller Proleg. 393 be-
5.

Dies ist im Aufbau der orphischen Religion der alles zu-
sammenhaltende Schlussstein: der Glaube an die göttlich un-
sterbliche Lebenskraft der Seele, der die Verbindung mit dem
Leibe und seinen Trieben eine hemmende Fessel, eine Strafe
ist, deren sie, zu vollem Verständniss ihrer selbst erweckt, ledig
zu werden strebt, um in freier Kraft ganz sich selbst anzu-
gehören. Deutlich ist der volle Gegensatz dieses Glaubens zu
den Vorstellungen homerischer Welt, die der von den Kräften
des Leibes verlassenen Seele nur ein schwaches Schattenleben
bei halbem Bewusstsein zutraute, und eine Ewigkeit götter-
gleich vollkräftigen Lebens nur da sich denken konnte, wo
Leib und Seele, das zwiefache Ich des Menschen in unlösbarer
Gemeinschaft dem Reiche der Sterblichkeit entrückt wäre.
Grund und Ursprung des so ganz anders gearteten orphischen
Seelenglaubens lehren die orphischen Sagen von der Entstehung
des Menschengeschlechts uns nicht kennen: denn sie zeigen
nur den Weg — einen von mehreren Wegen 1) — auf dem

1) Die orphischen Dichtungen müssen in dem Bericht von der Be-
handlung der Glieder des zerrissenen Zagreus-Dionysos uneinig gewesen
sein. Die Zerreissung des Gottes durch die Titanen scheint allen Ver-
sionen des theogonischen Gedichtes gemeinsam gewesen zu sein (s. oben
p. 411). Während aber nach der einen Darstellung die Titanen den
Gott verschlingen (ausser dem Herzen) und aus dem dionysisch-titanischen
Gehalte ihrer durch Blitz zerstörten Leiber das Menschengeschlecht ent-
steht (s. oben p. 413, 1), erzählen andere, dass die zerrissenen Glieder des
Gottes von Zeus dem Apollo gebracht und von diesem „am Parnass“ d. h.
zu Delphi beigesetzt wurden (s. Orph. fr. 200 [Clem. Alex.]; so Kalli-
machos, fr. 374). Die Rhapsodien führten die erste Version aus, ent-
hielten aber auch einen der zweiten ähnlichen Bericht (s. fr. 203. 204:
das ἑνἱζειν τὰ μερισϑέντα τοῦ Διονύσου μέλη durch Apollo bezieht sich
dort wohl auf die Anpassung der erhaltenen Glieder an einander zum
Begräbniss, nicht auf eine Neubelebung des Todten. So auch vermuth-
lich die Διονύσου μελῶν κολλήσεις bei Julian. adv. christ. p. 167, 7 Neum.
Aber von Wiederbelebung des nach der Zerreissung συντιϑεμένου Dionysos
redet Orig. adv. Cels. 4, 17 p. 21 Lomm.). Wo sie allein vorkommt,
schliesst die zweite Version die Anthropogonie aus der Titanenasche aus.
Es ist nicht zu verkennen, dass (wie schon K. O. Müller Proleg. 393 be-
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[424/0440] 5. Dies ist im Aufbau der orphischen Religion der alles zu- sammenhaltende Schlussstein: der Glaube an die göttlich un- sterbliche Lebenskraft der Seele, der die Verbindung mit dem Leibe und seinen Trieben eine hemmende Fessel, eine Strafe ist, deren sie, zu vollem Verständniss ihrer selbst erweckt, ledig zu werden strebt, um in freier Kraft ganz sich selbst anzu- gehören. Deutlich ist der volle Gegensatz dieses Glaubens zu den Vorstellungen homerischer Welt, die der von den Kräften des Leibes verlassenen Seele nur ein schwaches Schattenleben bei halbem Bewusstsein zutraute, und eine Ewigkeit götter- gleich vollkräftigen Lebens nur da sich denken konnte, wo Leib und Seele, das zwiefache Ich des Menschen in unlösbarer Gemeinschaft dem Reiche der Sterblichkeit entrückt wäre. Grund und Ursprung des so ganz anders gearteten orphischen Seelenglaubens lehren die orphischen Sagen von der Entstehung des Menschengeschlechts uns nicht kennen: denn sie zeigen nur den Weg — einen von mehreren Wegen 1) — auf dem 1) Die orphischen Dichtungen müssen in dem Bericht von der Be- handlung der Glieder des zerrissenen Zagreus-Dionysos uneinig gewesen sein. Die Zerreissung des Gottes durch die Titanen scheint allen Ver- sionen des theogonischen Gedichtes gemeinsam gewesen zu sein (s. oben p. 411). Während aber nach der einen Darstellung die Titanen den Gott verschlingen (ausser dem Herzen) und aus dem dionysisch-titanischen Gehalte ihrer durch Blitz zerstörten Leiber das Menschengeschlecht ent- steht (s. oben p. 413, 1), erzählen andere, dass die zerrissenen Glieder des Gottes von Zeus dem Apollo gebracht und von diesem „am Parnass“ d. h. zu Delphi beigesetzt wurden (s. Orph. fr. 200 [Clem. Alex.]; so Kalli- machos, fr. 374). Die Rhapsodien führten die erste Version aus, ent- hielten aber auch einen der zweiten ähnlichen Bericht (s. fr. 203. 204: das ἑνἱζειν τὰ μερισϑέντα τοῦ Διονύσου μέλη durch Apollo bezieht sich dort wohl auf die Anpassung der erhaltenen Glieder an einander zum Begräbniss, nicht auf eine Neubelebung des Todten. So auch vermuth- lich die Διονύσου μελῶν κολλήσεις bei Julian. adv. christ. p. 167, 7 Neum. Aber von Wiederbelebung des nach der Zerreissung συντιϑεμένου Dionysos redet Orig. adv. Cels. 4, 17 p. 21 Lomm.). Wo sie allein vorkommt, schliesst die zweite Version die Anthropogonie aus der Titanenasche aus. Es ist nicht zu verkennen, dass (wie schon K. O. Müller Proleg. 393 be-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/440>, abgerufen am 22.11.2024.