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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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tes. Der eigentliche Schauplatz ihrer Handlungen konnte nur
das Innere ihrer Helden sein.

Der Bühnendichter wagt etwas bis dahin Unerhörtes. Er
lässt die, vor den Lesern und Hörern aller früheren Dichtung
nur in den Nebelbildern ihrer eigenen, mannigfach beschränkten
und bedingten Phantasie vorüberziehenden Gestalten und Ereig-
nisse der alten Sagen und Geschichten in sichtbarer Leiblich-
keit allen Zuschauern gleichmässig deutlich vor Augen treten.
Was der Phantasie nur wie ein Traumbild, von ihr selbst er-
schaffen, sich zeigte, wird nun dem Auge ein unabänderlich
bestimmter, unabhängig von der Vorstellungskraft des Schauen-
den dastehender und sich bewegender Gegenstand der Wahr-
nehmung wacher Sinne. So zu greifbarer, voll lebendiger Ge-
stalt erweckt, tritt der Mythus in ein ganz neues Licht. Was
an ihm nur Ereigniss ist, verliert an Interesse gegen den
sichtbar sich vor uns bewegenden Träger des Ereignisses, dessen
Bedeutung und Gehalt nicht mit dieser einen That erschöpft
ist. In der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung der zum
Bühnenspiel gewordenen alten Sage füllt schon äusserlich die,
in einzelnen Thatmomenten sich entladende Handlung den
geringsten Raum aus. Die Reden und Widerreden des Hel-
den und sämmtlicher an der Handlung Betheiligten müssen
die Breite des zeitlichen Verlaufes einnehmen. Die Motive
der Handlung, in den Reden ausgesprochen, bestritten und
durchgekämpft, werden wichtiger als ihr letztes Ergebniss in
leidenschaftlicher That und tödlichem Leid. Und bei höherer
Entwicklung des Kunstvermögens sucht der Blick des Geistes
die bleibenden Linien des Charakters zu erfassen, den im ein-
zelnen Falle solche Motive zu solcher That bestimmen konn-
ten. So führt die volle Verleiblichung des Mythus zu dessen
höchster Vergeistigung. Der Blick und Sinn des Zuschauers
wird gelenkt weniger auf das äussere Geschehen (dessen Ablauf
zudem, aus alter Sagenüberlieferung bekannt, ohne viel Span-
nung erwartet werden kann), als auf den inneren Sinn dessen,
was der Held thut und erleidet.

tes. Der eigentliche Schauplatz ihrer Handlungen konnte nur
das Innere ihrer Helden sein.

Der Bühnendichter wagt etwas bis dahin Unerhörtes. Er
lässt die, vor den Lesern und Hörern aller früheren Dichtung
nur in den Nebelbildern ihrer eigenen, mannigfach beschränkten
und bedingten Phantasie vorüberziehenden Gestalten und Ereig-
nisse der alten Sagen und Geschichten in sichtbarer Leiblich-
keit allen Zuschauern gleichmässig deutlich vor Augen treten.
Was der Phantasie nur wie ein Traumbild, von ihr selbst er-
schaffen, sich zeigte, wird nun dem Auge ein unabänderlich
bestimmter, unabhängig von der Vorstellungskraft des Schauen-
den dastehender und sich bewegender Gegenstand der Wahr-
nehmung wacher Sinne. So zu greifbarer, voll lebendiger Ge-
stalt erweckt, tritt der Mythus in ein ganz neues Licht. Was
an ihm nur Ereigniss ist, verliert an Interesse gegen den
sichtbar sich vor uns bewegenden Träger des Ereignisses, dessen
Bedeutung und Gehalt nicht mit dieser einen That erschöpft
ist. In der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung der zum
Bühnenspiel gewordenen alten Sage füllt schon äusserlich die,
in einzelnen Thatmomenten sich entladende Handlung den
geringsten Raum aus. Die Reden und Widerreden des Hel-
den und sämmtlicher an der Handlung Betheiligten müssen
die Breite des zeitlichen Verlaufes einnehmen. Die Motive
der Handlung, in den Reden ausgesprochen, bestritten und
durchgekämpft, werden wichtiger als ihr letztes Ergebniss in
leidenschaftlicher That und tödlichem Leid. Und bei höherer
Entwicklung des Kunstvermögens sucht der Blick des Geistes
die bleibenden Linien des Charakters zu erfassen, den im ein-
zelnen Falle solche Motive zu solcher That bestimmen konn-
ten. So führt die volle Verleiblichung des Mythus zu dessen
höchster Vergeistigung. Der Blick und Sinn des Zuschauers
wird gelenkt weniger auf das äussere Geschehen (dessen Ablauf
zudem, aus alter Sagenüberlieferung bekannt, ohne viel Span-
nung erwartet werden kann), als auf den inneren Sinn dessen,
was der Held thut und erleidet.

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[517/0533] tes. Der eigentliche Schauplatz ihrer Handlungen konnte nur das Innere ihrer Helden sein. Der Bühnendichter wagt etwas bis dahin Unerhörtes. Er lässt die, vor den Lesern und Hörern aller früheren Dichtung nur in den Nebelbildern ihrer eigenen, mannigfach beschränkten und bedingten Phantasie vorüberziehenden Gestalten und Ereig- nisse der alten Sagen und Geschichten in sichtbarer Leiblich- keit allen Zuschauern gleichmässig deutlich vor Augen treten. Was der Phantasie nur wie ein Traumbild, von ihr selbst er- schaffen, sich zeigte, wird nun dem Auge ein unabänderlich bestimmter, unabhängig von der Vorstellungskraft des Schauen- den dastehender und sich bewegender Gegenstand der Wahr- nehmung wacher Sinne. So zu greifbarer, voll lebendiger Ge- stalt erweckt, tritt der Mythus in ein ganz neues Licht. Was an ihm nur Ereigniss ist, verliert an Interesse gegen den sichtbar sich vor uns bewegenden Träger des Ereignisses, dessen Bedeutung und Gehalt nicht mit dieser einen That erschöpft ist. In der räumlichen und zeitlichen Ausbreitung der zum Bühnenspiel gewordenen alten Sage füllt schon äusserlich die, in einzelnen Thatmomenten sich entladende Handlung den geringsten Raum aus. Die Reden und Widerreden des Hel- den und sämmtlicher an der Handlung Betheiligten müssen die Breite des zeitlichen Verlaufes einnehmen. Die Motive der Handlung, in den Reden ausgesprochen, bestritten und durchgekämpft, werden wichtiger als ihr letztes Ergebniss in leidenschaftlicher That und tödlichem Leid. Und bei höherer Entwicklung des Kunstvermögens sucht der Blick des Geistes die bleibenden Linien des Charakters zu erfassen, den im ein- zelnen Falle solche Motive zu solcher That bestimmen konn- ten. So führt die volle Verleiblichung des Mythus zu dessen höchster Vergeistigung. Der Blick und Sinn des Zuschauers wird gelenkt weniger auf das äussere Geschehen (dessen Ablauf zudem, aus alter Sagenüberlieferung bekannt, ohne viel Span- nung erwartet werden kann), als auf den inneren Sinn dessen, was der Held thut und erleidet.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/533>, abgerufen am 22.11.2024.