diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des seelisch Kranken vorhanden sind, wird im "Orestes" geradezu ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten, den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das "Thierische und Bluttriefende" dieser alten Glaubensbilder er- regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte- risch zu gestalten. -- So wird denn auch die Verpflichtung der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid- men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge- fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese: dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab
1)Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288--291.
2) to theriodes touto kai miaiphonon -- Or. 517. Orest hätte, statt selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen: Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.; 1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut- rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi- stischen Kälte mit der hierüber in dem agon zwischen Tyndareos und Orest verhandelt wird: Or. 485--597, an der Spitzfindigkeit in der Rede des Orest, Or. 924 ff.
diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten, den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das „Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er- regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte- risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid- men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge- fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese: dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab
1)Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288—291.
2) τὸ ϑηριῶδες τοῦτο καὶ μιαιφόνον — Or. 517. Orest hätte, statt selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen: Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.; 1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut- rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi- stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und Orest verhandelt wird: Or. 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede des Orest, Or. 924 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0559"n="543"/>
diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur<lb/>
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich<lb/>
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die<lb/>
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der<lb/>
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des<lb/>
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu<lb/>
ausgesprochen <noteplace="foot"n="1)"><hirendition="#i">Or.</hi> 248 f. Nicht viel anders auch <hirendition="#i">Iph. Taur.</hi> 288—291.</note>. Und die ganze Kette dieser Vorstellungen<lb/>
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht<lb/>
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden<lb/>
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,<lb/>
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das<lb/>„Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er-<lb/>
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder<lb/>
Sitte, seinen Abscheu <noteplace="foot"n="2)">τὸϑηριῶδεςτοῦτοκαὶμιαιφόνον—<hirendition="#i">Or.</hi> 517. Orest hätte, statt<lb/>
selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen:<lb/><hirendition="#i">Or.</hi> 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen<lb/>
können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: <hirendition="#i">Or.</hi> 280 ff. Einzig<lb/>
Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: <hirendition="#i">El.</hi> 969 ff.;<lb/>
1297 f.; <hirendition="#i">Or.</hi> 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl<lb/>
Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: <hirendition="#i">El.</hi> 1177 ff. (dennoch ist<lb/>
viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig<lb/>
dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut-<lb/>
rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi-<lb/>
stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und<lb/>
Orest verhandelt wird: <hirendition="#i">Or.</hi> 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede<lb/>
des Orest, <hirendition="#i">Or.</hi> 924 ff.</note>. Er glaubt nicht an solches Blutrecht<lb/>
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm<lb/>
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an<lb/>
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm<lb/>
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-<lb/>
risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung<lb/>
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-<lb/>
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-<lb/>
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:<lb/>
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[543/0559]
diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu
ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das
„Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er-
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder
Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-
risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab
1) Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288—291.
2) τὸ ϑηριῶδες τοῦτο καὶ μιαιφόνον — Or. 517. Orest hätte, statt
selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen:
Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen
können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig
Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.;
1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl
Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist
viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig
dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut-
rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi-
stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und
Orest verhandelt wird: Or. 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede
des Orest, Or. 924 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/559>, abgerufen am 26.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.