nun, wer an dem Einzigen theil hatte, was die Griechen in unterscheidender Eigenthümlichkeit zusammenhielt, der griechischen Bildung; und diese war eine national abgeschlos- sene nicht mehr. Es war nicht Schuld dieser griechischen Humanität, wenn von ganzen Völkerschaften im Osten keine einzige, im Westen zuletzt allein die römische diese aller Welt dargebotene Bildung zu einem Bestandtheil ihres eigenen Wesens machte und dort zu Griechen wurden, soviele zu freien Menschen werden konnten. Aber aus allen Stämmen und Völkern traten ungezählte Einzelne in die Gemeinschaft dieses erweiterten Griechenthums ein. Allen wäre der Zugang möglich gewesen, die eine nationale Bestimmtheit des Lebens und der Empfindung entbehren konnten: denn die Cultur, die jetzt Griechen und Griechengenossen vereinigte, beruhte auf der Wissenschaft, die keine nationale Einschränkung kennt.
Es musste eine in sich zur Ruhe, wenn auch nicht zum letzten Abschluss gekommene Wissenschaft sein, die sich der mannichfach gemischten Schaar der Gebildeten zur Führerin anbieten durfte. Nach dem Drang und Streben der vergangenen Jahrhunderte war sie zu einer genügsameren Befriedigung in sich selbst gelangt; sie meinte, nach langem und unruhigem Suchen nun gefunden zu haben. In der Philosophie zumal liess mehr und mehr der nie befriedigte Trieb der kühnen Einzelnen nach, auf immer neue Fragen Antwort zu erzwingen, für die alten Fragen immer neue Lösungen zu suchen. Wenige grosse Ge- bäude, nach den festgesetzten Formeln der Schulen aufgerichtet, boten den nach Gewissheit und Stätigkeit der Erkenntniss Ver- langenden Obdach; für Jahrhunderte hielten sie, ohne erheb- liche Umbauten, vor, bis auch sie zuletzt aus den Fugen gingen. Selbständiger wechselnd war die Bewegung in den Einzel- wissenschaften, die, von der Philosophie jetzt erst völlig los- gerungen, nach eigenen Gesetzen sich reich entwickelten. Die Kunst, an Geist und Anmuth auch jetzt nicht arm, selbst nach den übermächtigen Leistungen der Vergangenheit nicht durchaus zu nachbildendem Epigonenthum eingeschüchtert, war
nun, wer an dem Einzigen theil hatte, was die Griechen in unterscheidender Eigenthümlichkeit zusammenhielt, der griechischen Bildung; und diese war eine national abgeschlos- sene nicht mehr. Es war nicht Schuld dieser griechischen Humanität, wenn von ganzen Völkerschaften im Osten keine einzige, im Westen zuletzt allein die römische diese aller Welt dargebotene Bildung zu einem Bestandtheil ihres eigenen Wesens machte und dort zu Griechen wurden, soviele zu freien Menschen werden konnten. Aber aus allen Stämmen und Völkern traten ungezählte Einzelne in die Gemeinschaft dieses erweiterten Griechenthums ein. Allen wäre der Zugang möglich gewesen, die eine nationale Bestimmtheit des Lebens und der Empfindung entbehren konnten: denn die Cultur, die jetzt Griechen und Griechengenossen vereinigte, beruhte auf der Wissenschaft, die keine nationale Einschränkung kennt.
Es musste eine in sich zur Ruhe, wenn auch nicht zum letzten Abschluss gekommene Wissenschaft sein, die sich der mannichfach gemischten Schaar der Gebildeten zur Führerin anbieten durfte. Nach dem Drang und Streben der vergangenen Jahrhunderte war sie zu einer genügsameren Befriedigung in sich selbst gelangt; sie meinte, nach langem und unruhigem Suchen nun gefunden zu haben. In der Philosophie zumal liess mehr und mehr der nie befriedigte Trieb der kühnen Einzelnen nach, auf immer neue Fragen Antwort zu erzwingen, für die alten Fragen immer neue Lösungen zu suchen. Wenige grosse Ge- bäude, nach den festgesetzten Formeln der Schulen aufgerichtet, boten den nach Gewissheit und Stätigkeit der Erkenntniss Ver- langenden Obdach; für Jahrhunderte hielten sie, ohne erheb- liche Umbauten, vor, bis auch sie zuletzt aus den Fugen gingen. Selbständiger wechselnd war die Bewegung in den Einzel- wissenschaften, die, von der Philosophie jetzt erst völlig los- gerungen, nach eigenen Gesetzen sich reich entwickelten. Die Kunst, an Geist und Anmuth auch jetzt nicht arm, selbst nach den übermächtigen Leistungen der Vergangenheit nicht durchaus zu nachbildendem Epigonenthum eingeschüchtert, war
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nun, wer an dem Einzigen theil hatte, was die Griechen
in unterscheidender Eigenthümlichkeit zusammenhielt, der
griechischen Bildung; und diese war eine national abgeschlos-
sene nicht mehr. Es war nicht Schuld dieser griechischen
Humanität, wenn von ganzen Völkerschaften im Osten keine
einzige, im Westen zuletzt allein die römische diese aller Welt
dargebotene Bildung zu einem Bestandtheil ihres eigenen
Wesens machte und dort zu Griechen wurden, soviele zu
freien Menschen werden konnten. Aber aus allen Stämmen
und Völkern traten ungezählte Einzelne in die Gemeinschaft
dieses erweiterten Griechenthums ein. Allen wäre der Zugang
möglich gewesen, die eine nationale Bestimmtheit des Lebens
und der Empfindung entbehren konnten: denn die Cultur, die
jetzt Griechen und Griechengenossen vereinigte, beruhte auf
der Wissenschaft, die keine nationale Einschränkung kennt.
Es musste eine in sich zur Ruhe, wenn auch nicht zum
letzten Abschluss gekommene Wissenschaft sein, die sich der
mannichfach gemischten Schaar der Gebildeten zur Führerin
anbieten durfte. Nach dem Drang und Streben der vergangenen
Jahrhunderte war sie zu einer genügsameren Befriedigung in
sich selbst gelangt; sie meinte, nach langem und unruhigem
Suchen nun gefunden zu haben. In der Philosophie zumal liess
mehr und mehr der nie befriedigte Trieb der kühnen Einzelnen
nach, auf immer neue Fragen Antwort zu erzwingen, für die
alten Fragen immer neue Lösungen zu suchen. Wenige grosse Ge-
bäude, nach den festgesetzten Formeln der Schulen aufgerichtet,
boten den nach Gewissheit und Stätigkeit der Erkenntniss Ver-
langenden Obdach; für Jahrhunderte hielten sie, ohne erheb-
liche Umbauten, vor, bis auch sie zuletzt aus den Fugen gingen.
Selbständiger wechselnd war die Bewegung in den Einzel-
wissenschaften, die, von der Philosophie jetzt erst völlig los-
gerungen, nach eigenen Gesetzen sich reich entwickelten. Die
Kunst, an Geist und Anmuth auch jetzt nicht arm, selbst
nach den übermächtigen Leistungen der Vergangenheit nicht
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/605>, abgerufen am 22.11.2024.
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