dass die Erzählung von der Fahrt des Odysseus in die Unter- welt im Zusammenhang der Odyssee ursprünglich nicht vor- handen war. Kirke heisst den Odysseus zum Hades fahren, damit ihm dort Tiresias "den Weg und die Maasse der Rück- kehr weise, und wie er heimgelangen könne über das fisch- reiche Meer" (Od. 10, 539 f.). Tiresias, im Schattenreiche aufgesucht, erfüllt diese Bitte nur ganz unvollständig und oben- hin; dem Zurückgekehrten giebt dann Kirke selbst eine voll- ständigere und in dem Einen auch von Tiresias berührten Puncte deutlichere Auskunft über die Gefahren, die auf der Rück- kehr noch bevorstehen 1). Die Fahrt in's Todtenreich war also unnöthig; es ist kein Zweifel, dass sie ursprünglich ganz fehlte. Es ist aber auch klar, dass der Dichter dieser Abenteuer sich der (überflüssigen) Erkundung bei Tiresias nur als eines lockeren Vorwandes bediente, um doch irgend einen äusseren Anlass zu haben, seine Erzählung in das Ganze der Odyssee einzuhängen. Der wahre Zweck des Dichters, die eigentliche Veranlassung der Dichtung muss anderswo gesucht werden als in der Weis- sagung des Tiresias, die denn auch auffallend kurz und nüch- tern abgemacht wird. Es läge ja nahe anzunehmen, dass die Absicht des Dichters gewesen sei, der Phantasie einen Ein- blick in die Wunder und Schrecken des dunkeln Reiches, in das alle Menschen eingehen müssen, zu eröffnen. Eine solche Absicht, wie bei mittelalterlichen, so bei griechischen Höllen- poeten späterer Zeit (deren es eine erhebliche Zahl gab) 2) sehr begreiflich, wäre nur eben bei einem Dichter homerischer Schule schwer verständlich: ihm konnte ja das Seelenreich und seine Bewohner kaum ein Gegenstand irgend welcher Schilde- rung sein. Und in der That hat der Dichter der Hadesfahrt
1) Die auf Thrinakia, und die Heerden des Helios bezüglichen Mit- theilungen des Tiresias, 11, 107 ff. scheinen eben darum so kurz und un- genügend ausgeführt zu sein, weil der genauere Bericht der Kirke, 12, 127 ff. dem Dichter schon bekannt war und er diesen nicht vollständig wiederholen mochte.
2) S. einstweilen die Aufzählung in meinem Griech. Roman S. 260 f. Ich komme weiter unten auf den Gegenstand zurück.
dass die Erzählung von der Fahrt des Odysseus in die Unter- welt im Zusammenhang der Odyssee ursprünglich nicht vor- handen war. Kirke heisst den Odysseus zum Hades fahren, damit ihm dort Tiresias „den Weg und die Maasse der Rück- kehr weise, und wie er heimgelangen könne über das fisch- reiche Meer“ (Od. 10, 539 f.). Tiresias, im Schattenreiche aufgesucht, erfüllt diese Bitte nur ganz unvollständig und oben- hin; dem Zurückgekehrten giebt dann Kirke selbst eine voll- ständigere und in dem Einen auch von Tiresias berührten Puncte deutlichere Auskunft über die Gefahren, die auf der Rück- kehr noch bevorstehen 1). Die Fahrt in’s Todtenreich war also unnöthig; es ist kein Zweifel, dass sie ursprünglich ganz fehlte. Es ist aber auch klar, dass der Dichter dieser Abenteuer sich der (überflüssigen) Erkundung bei Tiresias nur als eines lockeren Vorwandes bediente, um doch irgend einen äusseren Anlass zu haben, seine Erzählung in das Ganze der Odyssee einzuhängen. Der wahre Zweck des Dichters, die eigentliche Veranlassung der Dichtung muss anderswo gesucht werden als in der Weis- sagung des Tiresias, die denn auch auffallend kurz und nüch- tern abgemacht wird. Es läge ja nahe anzunehmen, dass die Absicht des Dichters gewesen sei, der Phantasie einen Ein- blick in die Wunder und Schrecken des dunkeln Reiches, in das alle Menschen eingehen müssen, zu eröffnen. Eine solche Absicht, wie bei mittelalterlichen, so bei griechischen Höllen- poeten späterer Zeit (deren es eine erhebliche Zahl gab) 2) sehr begreiflich, wäre nur eben bei einem Dichter homerischer Schule schwer verständlich: ihm konnte ja das Seelenreich und seine Bewohner kaum ein Gegenstand irgend welcher Schilde- rung sein. Und in der That hat der Dichter der Hadesfahrt
1) Die auf Thrinakia, und die Heerden des Helios bezüglichen Mit- theilungen des Tiresias, 11, 107 ff. scheinen eben darum so kurz und un- genügend ausgeführt zu sein, weil der genauere Bericht der Kirke, 12, 127 ff. dem Dichter schon bekannt war und er diesen nicht vollständig wiederholen mochte.
2) S. einstweilen die Aufzählung in meinem Griech. Roman S. 260 f. Ich komme weiter unten auf den Gegenstand zurück.
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[46/0062]
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damit ihm dort Tiresias „den Weg und die Maasse der Rück-
kehr weise, und wie er heimgelangen könne über das fisch-
reiche Meer“ (Od. 10, 539 f.). Tiresias, im Schattenreiche
aufgesucht, erfüllt diese Bitte nur ganz unvollständig und oben-
hin; dem Zurückgekehrten giebt dann Kirke selbst eine voll-
ständigere und in dem Einen auch von Tiresias berührten Puncte
deutlichere Auskunft über die Gefahren, die auf der Rück-
kehr noch bevorstehen 1). Die Fahrt in’s Todtenreich war also
unnöthig; es ist kein Zweifel, dass sie ursprünglich ganz fehlte.
Es ist aber auch klar, dass der Dichter dieser Abenteuer sich
der (überflüssigen) Erkundung bei Tiresias nur als eines lockeren
Vorwandes bediente, um doch irgend einen äusseren Anlass zu
haben, seine Erzählung in das Ganze der Odyssee einzuhängen.
Der wahre Zweck des Dichters, die eigentliche Veranlassung
der Dichtung muss anderswo gesucht werden als in der Weis-
sagung des Tiresias, die denn auch auffallend kurz und nüch-
tern abgemacht wird. Es läge ja nahe anzunehmen, dass die
Absicht des Dichters gewesen sei, der Phantasie einen Ein-
blick in die Wunder und Schrecken des dunkeln Reiches, in
das alle Menschen eingehen müssen, zu eröffnen. Eine solche
Absicht, wie bei mittelalterlichen, so bei griechischen Höllen-
poeten späterer Zeit (deren es eine erhebliche Zahl gab) 2)
sehr begreiflich, wäre nur eben bei einem Dichter homerischer
Schule schwer verständlich: ihm konnte ja das Seelenreich und
seine Bewohner kaum ein Gegenstand irgend welcher Schilde-
rung sein. Und in der That hat der Dichter der Hadesfahrt
1) Die auf Thrinakia, und die Heerden des Helios bezüglichen Mit-
theilungen des Tiresias, 11, 107 ff. scheinen eben darum so kurz und un-
genügend ausgeführt zu sein, weil der genauere Bericht der Kirke, 12,
127 ff. dem Dichter schon bekannt war und er diesen nicht vollständig
wiederholen mochte.
2) S. einstweilen die Aufzählung in meinem Griech. Roman S. 260 f.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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