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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Den Herakles sucht der Dichter mit Odysseus durch ein Ge-
spräch in Verbindung zu setzen, in Nachahmung der Gespräche
des Odysseus mit Agamemnon und Achill: man merkt aber
bald, dass diese zwei einander nichts zu sagen haben (wie denn
auch Odysseus schweigt); es besteht keine Beziehung zwischen
ihnen, höchstens eine Analogie, insofern auch Herakles einst
lebendig in den Hades eingedrungen ist. Es scheint, dass einzig
diese Analogie den Dichter veranlasst hat, den Herakles hier
einzuschieben 1).

Es bleiben noch (zwischen Minos und Orion und Herakles
gestellt und vermuthlich von derselben Hand gebildet, die auch
jene beiden gezeichnet hat) die jedem Leser unvergesslichen
Gestalten der drei "Büsser", des Tityos, dessen Riesenleib
zwei Geier zerhacken, des Tantalos, der mitten im Teich ver-
schmachtet und die überhangenden Zweige der Obstbäume
nicht erreichen kann, des Sisyphos, der den immer wieder ab-
wärts rollenden Stein immer wieder in die Höhe wälzen muss.
In diesen Schilderungen ist die Grenze der homerischen Vor-
stellungen, mit denen sich die Bilder des Minos, Orion und
Herakles immer noch ausgleichen liessen, entschieden über-
schritten. Den Seelen dieser drei Unglücklichen wird volles
und dauerndes Bewusstsein zugetraut, ohne welches ja die
Strafe nicht empfunden werden könnte und also nicht ausgeübt
werden würde. Und wenn man die ausserordentlich sichere,
knappe, den Grund der Strafe nur bei Tityos andeutende, sonst
einfach als bekannt voraussetzende Darstellung beachtet, wird
man den Eindruck haben, als ob diese Beispiele der Strafen
im Jenseits nicht zum ersten Male von dem Dichter dieser
Verse gebildet, den überraschten Hörern als kühne Neuerung
dargeboten, sondern mehr diesen nur in's Gedächtniss zurück-
gerufen, vielleicht aus einer grösseren Anzahl solcher Bilder ge-
rade diese drei ausgewählt seien. Hatten also bereits ältere
Dichter (die immer noch jünger sein konnten als der Dichter

1) Vgl. v. 623 ff.

Den Herakles sucht der Dichter mit Odysseus durch ein Ge-
spräch in Verbindung zu setzen, in Nachahmung der Gespräche
des Odysseus mit Agamemnon und Achill: man merkt aber
bald, dass diese zwei einander nichts zu sagen haben (wie denn
auch Odysseus schweigt); es besteht keine Beziehung zwischen
ihnen, höchstens eine Analogie, insofern auch Herakles einst
lebendig in den Hades eingedrungen ist. Es scheint, dass einzig
diese Analogie den Dichter veranlasst hat, den Herakles hier
einzuschieben 1).

Es bleiben noch (zwischen Minos und Orion und Herakles
gestellt und vermuthlich von derselben Hand gebildet, die auch
jene beiden gezeichnet hat) die jedem Leser unvergesslichen
Gestalten der drei „Büsser“, des Tityos, dessen Riesenleib
zwei Geier zerhacken, des Tantalos, der mitten im Teich ver-
schmachtet und die überhangenden Zweige der Obstbäume
nicht erreichen kann, des Sisyphos, der den immer wieder ab-
wärts rollenden Stein immer wieder in die Höhe wälzen muss.
In diesen Schilderungen ist die Grenze der homerischen Vor-
stellungen, mit denen sich die Bilder des Minos, Orion und
Herakles immer noch ausgleichen liessen, entschieden über-
schritten. Den Seelen dieser drei Unglücklichen wird volles
und dauerndes Bewusstsein zugetraut, ohne welches ja die
Strafe nicht empfunden werden könnte und also nicht ausgeübt
werden würde. Und wenn man die ausserordentlich sichere,
knappe, den Grund der Strafe nur bei Tityos andeutende, sonst
einfach als bekannt voraussetzende Darstellung beachtet, wird
man den Eindruck haben, als ob diese Beispiele der Strafen
im Jenseits nicht zum ersten Male von dem Dichter dieser
Verse gebildet, den überraschten Hörern als kühne Neuerung
dargeboten, sondern mehr diesen nur in’s Gedächtniss zurück-
gerufen, vielleicht aus einer grösseren Anzahl solcher Bilder ge-
rade diese drei ausgewählt seien. Hatten also bereits ältere
Dichter (die immer noch jünger sein konnten als der Dichter

1) Vgl. v. 623 ff.
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[57/0073] Den Herakles sucht der Dichter mit Odysseus durch ein Ge- spräch in Verbindung zu setzen, in Nachahmung der Gespräche des Odysseus mit Agamemnon und Achill: man merkt aber bald, dass diese zwei einander nichts zu sagen haben (wie denn auch Odysseus schweigt); es besteht keine Beziehung zwischen ihnen, höchstens eine Analogie, insofern auch Herakles einst lebendig in den Hades eingedrungen ist. Es scheint, dass einzig diese Analogie den Dichter veranlasst hat, den Herakles hier einzuschieben 1). Es bleiben noch (zwischen Minos und Orion und Herakles gestellt und vermuthlich von derselben Hand gebildet, die auch jene beiden gezeichnet hat) die jedem Leser unvergesslichen Gestalten der drei „Büsser“, des Tityos, dessen Riesenleib zwei Geier zerhacken, des Tantalos, der mitten im Teich ver- schmachtet und die überhangenden Zweige der Obstbäume nicht erreichen kann, des Sisyphos, der den immer wieder ab- wärts rollenden Stein immer wieder in die Höhe wälzen muss. In diesen Schilderungen ist die Grenze der homerischen Vor- stellungen, mit denen sich die Bilder des Minos, Orion und Herakles immer noch ausgleichen liessen, entschieden über- schritten. Den Seelen dieser drei Unglücklichen wird volles und dauerndes Bewusstsein zugetraut, ohne welches ja die Strafe nicht empfunden werden könnte und also nicht ausgeübt werden würde. Und wenn man die ausserordentlich sichere, knappe, den Grund der Strafe nur bei Tityos andeutende, sonst einfach als bekannt voraussetzende Darstellung beachtet, wird man den Eindruck haben, als ob diese Beispiele der Strafen im Jenseits nicht zum ersten Male von dem Dichter dieser Verse gebildet, den überraschten Hörern als kühne Neuerung dargeboten, sondern mehr diesen nur in’s Gedächtniss zurück- gerufen, vielleicht aus einer grösseren Anzahl solcher Bilder ge- rade diese drei ausgewählt seien. Hatten also bereits ältere Dichter (die immer noch jünger sein konnten als der Dichter 1) Vgl. v. 623 ff.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/73>, abgerufen am 24.11.2024.