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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Senden die Götter Dich einst, die unsterblichen; wo Rhadamanthys
Wohnet, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen bescheert ist,
(Nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender Regen,
Sondern es lässt aufsteigen des Wests leicht athmenden Anhauch
Immer Okeanos dort, dass er Kühlung bringe den Menschen),
Weil Du Helena hast, und Eidam ihnen des Zeus bist.

Diese Verse lassen einen Blick thun in ein Reich, von
dem die homerischen Gedichte sonst keinerlei Kunde geben.
Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das "Elysische Ge-
filde", ein Land unter ewig heiterem Himmel, gleich dem
Götterlande 1). Dort wohnt der Held Rhadamanthys, nicht
allein, darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehr-
zahl die Rede (V. 565. 568). Dorthin werden dereinst die
Götter "senden" den Menelaos: er wird nicht sterben (V. 562),
d. h. er wird lebendig dorthin gelangen, auch dort den Tod
nicht erleiden. Wohin er entrückt werden soll, das ist nicht
etwa ein Theil des Reiches des Hades, sondern ein Land auf
der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt bestimmt nicht ab-
geschiedenen Seelen, sondern Menschen, deren Seelen sich von
ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können
sie eben Gefühl und Genuss des Lebens (v. 565) haben.
Es ist das volle Gegentheil von einer seligen Unsterblichkeit
der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die Phantasie sich
ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig
undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen Ausgang
aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie ver-
schlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber
doch noch von dieser Welt, in das einzelne Günstlinge der
Götter entrückt werden, ohne dass ihre Psyche vom Leibe
sich trennte und dem Erebos verfiele.

Die Hindeutung auf solche wunderbare Entrückung steht
in den homerischen Gedichten vereinzelt, und scheint auch in
die Odyssee erst von nachdichtender Hand eingelegt zu sein 2).

1) Nicht umsonst erinnert, was von dem Klima, so zu sagen, des
Elysischen Landes gesagt wird, Od. 4, 566--568 stark an die Schilderung
des Göttersitzes auf dem Olymp, Od. 6, 43--45.
2) Die Verkündigung des Endschicksals des Menelaos hängt aller-
Senden die Götter Dich einst, die unsterblichen; wo Rhadamanthys
Wohnet, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen bescheert ist,
(Nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender Regen,
Sondern es lässt aufsteigen des Wests leicht athmenden Anhauch
Immer Okeanos dort, dass er Kühlung bringe den Menschen),
Weil Du Helena hast, und Eidam ihnen des Zeus bist.

Diese Verse lassen einen Blick thun in ein Reich, von
dem die homerischen Gedichte sonst keinerlei Kunde geben.
Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das „Elysische Ge-
filde“, ein Land unter ewig heiterem Himmel, gleich dem
Götterlande 1). Dort wohnt der Held Rhadamanthys, nicht
allein, darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehr-
zahl die Rede (V. 565. 568). Dorthin werden dereinst die
Götter „senden“ den Menelaos: er wird nicht sterben (V. 562),
d. h. er wird lebendig dorthin gelangen, auch dort den Tod
nicht erleiden. Wohin er entrückt werden soll, das ist nicht
etwa ein Theil des Reiches des Hades, sondern ein Land auf
der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt bestimmt nicht ab-
geschiedenen Seelen, sondern Menschen, deren Seelen sich von
ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können
sie eben Gefühl und Genuss des Lebens (v. 565) haben.
Es ist das volle Gegentheil von einer seligen Unsterblichkeit
der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die Phantasie sich
ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig
undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen Ausgang
aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie ver-
schlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber
doch noch von dieser Welt, in das einzelne Günstlinge der
Götter entrückt werden, ohne dass ihre Psyche vom Leibe
sich trennte und dem Erebos verfiele.

Die Hindeutung auf solche wunderbare Entrückung steht
in den homerischen Gedichten vereinzelt, und scheint auch in
die Odyssee erst von nachdichtender Hand eingelegt zu sein 2).

1) Nicht umsonst erinnert, was von dem Klima, so zu sagen, des
Elysischen Landes gesagt wird, Od. 4, 566—568 stark an die Schilderung
des Göttersitzes auf dem Olymp, Od. 6, 43—45.
2) Die Verkündigung des Endschicksals des Menelaos hängt aller-
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[64/0080] Senden die Götter Dich einst, die unsterblichen; wo Rhadamanthys Wohnet, der blonde, und leichtestes Leben den Menschen bescheert ist, (Nie ist da Schnee, nie Winter und Sturm noch strömender Regen, Sondern es lässt aufsteigen des Wests leicht athmenden Anhauch Immer Okeanos dort, dass er Kühlung bringe den Menschen), Weil Du Helena hast, und Eidam ihnen des Zeus bist. Diese Verse lassen einen Blick thun in ein Reich, von dem die homerischen Gedichte sonst keinerlei Kunde geben. Am Ende der Erde, am Okeanos liegt das „Elysische Ge- filde“, ein Land unter ewig heiterem Himmel, gleich dem Götterlande 1). Dort wohnt der Held Rhadamanthys, nicht allein, darf man denken: es ist ja von Menschen in der Mehr- zahl die Rede (V. 565. 568). Dorthin werden dereinst die Götter „senden“ den Menelaos: er wird nicht sterben (V. 562), d. h. er wird lebendig dorthin gelangen, auch dort den Tod nicht erleiden. Wohin er entrückt werden soll, das ist nicht etwa ein Theil des Reiches des Hades, sondern ein Land auf der Oberfläche der Erde, zum Aufenthalt bestimmt nicht ab- geschiedenen Seelen, sondern Menschen, deren Seelen sich von ihrem sichtbaren Ich nicht getrennt haben: denn nur so können sie eben Gefühl und Genuss des Lebens (v. 565) haben. Es ist das volle Gegentheil von einer seligen Unsterblichkeit der Seele in ihrem Sonderdasein, was hier die Phantasie sich ausmalt; eben weil eine solche homerischen Sängern völlig undenkbar blieb, sucht und findet der Wunsch einen Ausgang aus dem Reiche der Schatten, das alle Lebensenergie ver- schlingt. Er ersieht sich ein Land am Ende der Welt, aber doch noch von dieser Welt, in das einzelne Günstlinge der Götter entrückt werden, ohne dass ihre Psyche vom Leibe sich trennte und dem Erebos verfiele. Die Hindeutung auf solche wunderbare Entrückung steht in den homerischen Gedichten vereinzelt, und scheint auch in die Odyssee erst von nachdichtender Hand eingelegt zu sein 2). 1) Nicht umsonst erinnert, was von dem Klima, so zu sagen, des Elysischen Landes gesagt wird, Od. 4, 566—568 stark an die Schilderung des Göttersitzes auf dem Olymp, Od. 6, 43—45. 2) Die Verkündigung des Endschicksals des Menelaos hängt aller-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/80>, abgerufen am 24.11.2024.