Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 221–335. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.worüber sie mit mir reden wollte. Sobald ich meinen Thee, den sie mir schnell bereitete, genommen hatte, erklärte ich daher, müde zu sein, um mich auf mein Zimmer zurückziehen zu können. Und in der That brauchte ich nicht zu heucheln, denn ein mehrstündiges Rudern hatte mich etwas erschöpft. Kascha's Plan scheiterte jedoch, denn Franz begleitete mich auf mein Zimmer. Das ist für dich angekommen, sagte er, indem er nach dem Tische wies. Dort stand ein schöner großer Blumenstrauß, daneben lag ein kleines gesticktes Notizbuch. Ich griff freudig nach dem letzteren, da es mir schon seit mehreren Tagen fehlte und ich es für verloren gegeben hatte. Es war die letzte kleine Arbeit, das letzte Geschenk meiner verstorbenen Frau. Wo habt ihr es wieder gefunden? fragte ich freudig. -- Die Marie hat es gebracht, sagte Franz; du wirst es wohl auf der Lindenkaupe verloren haben. Die Marie? Sie war hier? -- Allerdings, gegen Abend, in der Dämmerstunde. Ich saß in meiner Stube, das Fenster stand offen. Da sah ich sie kommen. Sie spähte herein, und da sie mich der Dunkelheit wegen nicht sehen konnte und sich unbeobachtet glauben mochte, legte sie Strauß und Buch in das offene Fenster. Es war nur ein Augenblick, gleich darauf verschwand sie. Franz! entgegnete ich, es war dein Fenster, in das sie den Strauß legte. -- Es war das einzige worüber sie mit mir reden wollte. Sobald ich meinen Thee, den sie mir schnell bereitete, genommen hatte, erklärte ich daher, müde zu sein, um mich auf mein Zimmer zurückziehen zu können. Und in der That brauchte ich nicht zu heucheln, denn ein mehrstündiges Rudern hatte mich etwas erschöpft. Kascha's Plan scheiterte jedoch, denn Franz begleitete mich auf mein Zimmer. Das ist für dich angekommen, sagte er, indem er nach dem Tische wies. Dort stand ein schöner großer Blumenstrauß, daneben lag ein kleines gesticktes Notizbuch. Ich griff freudig nach dem letzteren, da es mir schon seit mehreren Tagen fehlte und ich es für verloren gegeben hatte. Es war die letzte kleine Arbeit, das letzte Geschenk meiner verstorbenen Frau. Wo habt ihr es wieder gefunden? fragte ich freudig. — Die Marie hat es gebracht, sagte Franz; du wirst es wohl auf der Lindenkaupe verloren haben. Die Marie? Sie war hier? — Allerdings, gegen Abend, in der Dämmerstunde. Ich saß in meiner Stube, das Fenster stand offen. Da sah ich sie kommen. Sie spähte herein, und da sie mich der Dunkelheit wegen nicht sehen konnte und sich unbeobachtet glauben mochte, legte sie Strauß und Buch in das offene Fenster. Es war nur ein Augenblick, gleich darauf verschwand sie. Franz! entgegnete ich, es war dein Fenster, in das sie den Strauß legte. — Es war das einzige <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <p><pb facs="#f0086"/> worüber sie mit mir reden wollte. Sobald ich meinen Thee, den sie mir schnell bereitete, genommen hatte, erklärte ich daher, müde zu sein, um mich auf mein Zimmer zurückziehen zu können. Und in der That brauchte ich nicht zu heucheln, denn ein mehrstündiges Rudern hatte mich etwas erschöpft. Kascha's Plan scheiterte jedoch, denn Franz begleitete mich auf mein Zimmer.</p><lb/> <p>Das ist für dich angekommen, sagte er, indem er nach dem Tische wies. Dort stand ein schöner großer Blumenstrauß, daneben lag ein kleines gesticktes Notizbuch. Ich griff freudig nach dem letzteren, da es mir schon seit mehreren Tagen fehlte und ich es für verloren gegeben hatte. Es war die letzte kleine Arbeit, das letzte Geschenk meiner verstorbenen Frau. Wo habt ihr es wieder gefunden? fragte ich freudig. — Die Marie hat es gebracht, sagte Franz; du wirst es wohl auf der Lindenkaupe verloren haben.</p><lb/> <p>Die Marie? Sie war hier? — Allerdings, gegen Abend, in der Dämmerstunde. Ich saß in meiner Stube, das Fenster stand offen. Da sah ich sie kommen. Sie spähte herein, und da sie mich der Dunkelheit wegen nicht sehen konnte und sich unbeobachtet glauben mochte, legte sie Strauß und Buch in das offene Fenster. Es war nur ein Augenblick, gleich darauf verschwand sie.</p><lb/> <p>Franz! entgegnete ich, es war dein Fenster, in das sie den Strauß legte. — Es war das einzige<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0086]
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Das ist für dich angekommen, sagte er, indem er nach dem Tische wies. Dort stand ein schöner großer Blumenstrauß, daneben lag ein kleines gesticktes Notizbuch. Ich griff freudig nach dem letzteren, da es mir schon seit mehreren Tagen fehlte und ich es für verloren gegeben hatte. Es war die letzte kleine Arbeit, das letzte Geschenk meiner verstorbenen Frau. Wo habt ihr es wieder gefunden? fragte ich freudig. — Die Marie hat es gebracht, sagte Franz; du wirst es wohl auf der Lindenkaupe verloren haben.
Die Marie? Sie war hier? — Allerdings, gegen Abend, in der Dämmerstunde. Ich saß in meiner Stube, das Fenster stand offen. Da sah ich sie kommen. Sie spähte herein, und da sie mich der Dunkelheit wegen nicht sehen konnte und sich unbeobachtet glauben mochte, legte sie Strauß und Buch in das offene Fenster. Es war nur ein Augenblick, gleich darauf verschwand sie.
Franz! entgegnete ich, es war dein Fenster, in das sie den Strauß legte. — Es war das einzige
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