Gustav Rose: Reise nach dem Ural, dem Altai und dem Kaspischen Meere. Band 1. Berlin, 1837.N001 [footnote-continued reference] N001 eroberte, fielen die türkischen Stämme zwischen der Wolga und dem N002 Dnieper unter mongolische Herrschaft. Die Fürsten dieses Reiches N003 von Kiptschak, das sich vom Dniestr bis zu der Jemba in der Kirgi- N004 sen-Steppe erstreckte, nannten sich Tataren oder Mongolen, N005 obgleich die Sage ging, dass Dschingis Chan, ursprünglich Fürst der N006 Kalkas- oder Calcha-Mongolen von türkischem Blute, und Timurs N007 Mutter eine Türkin war. Die Chane, die nach der Zerstückelung N008 des Reichs der Dschingischaniden in Kasan, Astrachan und der Krimm N009 herrschten, hiessen Tataren; ihre Unterthanen und Armeen waren N010 grösstentheils türkisch. Sie selbst nahmen bald die türkische Sprache N011 an, und so entstand der Gebrauch, die Benennung Tataren von der N012 Herrscher-Familie auf die beherrschten Türken zu übertragen. Tatar N013 wurde dazu durch falsche Erudition in West-Europa zu Tartaren um- N014 gewandelt. Ein Wortspiel des heiligen Ludwig drückt diese Erudition N015 lebhaft aus. Als man die Ankunft der Mongolen oder Tataren selbst N016 im Westen von Europa fürchtete (die Tataren-Schlacht bei Wahlstadt N017 in Schlesien war den 9ten April 1241), sagte Ludwig der Heilige zu N018 seiner Mutter: ,,Erigat nos, mater, coeleste solatium, quia si perve- N019 niant ipsi, vel nos ipsos, quos vocamus Tartaros, ad suas tar- N020 tareas sedes, unde exicrunt retrudemus, vel ipsi nos omnes ad coe- N021 lum advehent." So haben die ersten spanischen Entdecker wegen der N022 hundswuthartigen Grausamkeit der Caraiben aus dem ursprünglichen N023 Namen Carina oder Calina das Wort Canibalen geschmiedet. [footnote-continued reference] N001 Seitdem in dem letzt verflossenen halben Jahrhundert so viel N002 über Menschenracen discutirt worden ist, ist die unrichtige, erst im N003 dreizehnten Jahrhundert entstandene Verwechselung der Tartaren mit N004 den Türken in vielen vortrefflichen Schriften verbreitet worden. N005 Schlözer, Meiners, Adelung und Cuvier haben dazu beige- N006 tragen. Abel Remusat, der mit Klaproth die ursprüngliche N007 Identität von Mongolen und Tataren ergründete, schlägt vor, die alte N008 Benennung Tataren für Mongolen beizubehalten, aber Tartaren N009 als Collectivnamen für das heterogene Gemisch nordasiatischer Völker N010 zu gebrauchen, ein Vorschlag, der zu neuen Irrthümern veranlassen N011 könnte, etwa als wollten wir zwischen Deutschen und Teutschen N012 unterscheiden. [footnote-continued reference] N001
Wenn man bei uns so oft von Tatarischen Gesichtszügen N002 redet, und darunter ein gewisses Schiefstehen der Augen oder das N003 Aufgeworfene der Backenknochen versteht, so lässt sich dieser Aus- N004 druck allerdings durch die alte Identität der Mongolen und Tataren N005 rechtfertigen; aber die Tataren des Russischen Reiches haben, als N006 Türken, eine caucasische, den indo-germanischen Stämmen ähnliche N001 [footnote-continued reference] N001 eroberte, fielen die türkischen Stämme zwischen der Wolga und dem N002 Dnieper unter mongolische Herrschaft. Die Fürsten dieses Reiches N003 von Kiptschak, das sich vom Dniestr bis zu der Jemba in der Kirgi- N004 sen-Steppe erstreckte, nannten sich Tataren oder Mongolen, N005 obgleich die Sage ging, dass Dschingis Chan, ursprünglich Fürst der N006 Kalkas- oder Calcha-Mongolen von türkischem Blute, und Timurs N007 Mutter eine Türkin war. Die Chane, die nach der Zerstückelung N008 des Reichs der Dschingischaniden in Kasan, Astrachan und der Krimm N009 herrschten, hiessen Tataren; ihre Unterthanen und Armeen waren N010 grösstentheils türkisch. Sie selbst nahmen bald die türkische Sprache N011 an, und so entstand der Gebrauch, die Benennung Tataren von der N012 Herrscher-Familie auf die beherrschten Türken zu übertragen. Tatar N013 wurde dazu durch falsche Erudition in West-Europa zu Tartaren um- N014 gewandelt. Ein Wortspiel des heiligen Ludwig drückt diese Erudition N015 lebhaft aus. Als man die Ankunft der Mongolen oder Tataren selbst N016 im Westen von Europa fürchtete (die Tataren-Schlacht bei Wahlstadt N017 in Schlesien war den 9ten April 1241), sagte Ludwig der Heilige zu N018 seiner Mutter: ,,Erigat nos, mater, coeleste solatium, quia si perve- N019 niant ipsi, vel nos ipsos, quos vocamus Tartaros, ad suas tar- N020 tareas sedes, unde exicrunt retrudemus, vel ipsi nos omnes ad coe- N021 lum advehent.” So haben die ersten spanischen Entdecker wegen der N022 hundswuthartigen Grausamkeit der Caraiben aus dem ursprünglichen N023 Namen Carina oder Calina das Wort Canibalen geschmiedet. [footnote-continued reference] N001 Seitdem in dem letzt verflossenen halben Jahrhundert so viel N002 über Menschenracen discutirt worden ist, ist die unrichtige, erst im N003 dreizehnten Jahrhundert entstandene Verwechselung der Tartaren mit N004 den Türken in vielen vortrefflichen Schriften verbreitet worden. N005 Schlözer, Meiners, Adelung und Cuvier haben dazu beige- N006 tragen. Abel Remusat, der mit Klaproth die ursprüngliche N007 Identität von Mongolen und Tataren ergründete, schlägt vor, die alte N008 Benennung Tataren für Mongolen beizubehalten, aber Tartaren N009 als Collectivnamen für das heterogene Gemisch nordasiatischer Völker N010 zu gebrauchen, ein Vorschlag, der zu neuen Irrthümern veranlassen N011 könnte, etwa als wollten wir zwischen Deutschen und Teutschen N012 unterscheiden. [footnote-continued reference] N001
Wenn man bei uns so oft von Tatarischen Gesichtszügen N002 redet, und darunter ein gewisses Schiefstehen der Augen oder das N003 Aufgeworfene der Backenknochen versteht, so lässt sich dieser Aus- N004 druck allerdings durch die alte Identität der Mongolen und Tataren N005 rechtfertigen; aber die Tataren des Russischen Reiches haben, als N006 Türken, eine caucasische, den indo-germanischen Stämmen ähnliche <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0143" xml:id="img_0143" n="109"/> <p><lb n="N001"/> hochgelegenen Hauses, wo wir wohnten, warfen wir <lb n="N002"/> noch einen Blick auf den daran stossenden Garten und</p> <note place="foot" n="[footnote-continued reference]"><lb n="N001"/> eroberte, fielen die türkischen Stämme zwischen der Wolga und dem <lb n="N002"/> Dnieper unter mongolische Herrschaft. Die Fürsten dieses Reiches <lb n="N003"/> von Kiptschak, das sich vom Dniestr bis zu der Jemba in der Kirgi- <lb n="N004"/> sen-Steppe erstreckte, nannten sich Tataren oder Mongolen, <lb n="N005"/> obgleich die Sage ging, dass Dschingis Chan, ursprünglich Fürst der <lb n="N006"/> Kalkas- oder Calcha-Mongolen von türkischem Blute, und Timurs <lb n="N007"/> Mutter eine Türkin war. Die Chane, die nach der Zerstückelung <lb n="N008"/> des Reichs der Dschingischaniden in Kasan, Astrachan und der Krimm <lb n="N009"/> herrschten, hiessen Tataren; ihre Unterthanen und Armeen waren <lb n="N010"/> grösstentheils türkisch. Sie selbst nahmen bald die türkische Sprache <lb n="N011"/> an, und so entstand der Gebrauch, die Benennung Tataren von der <lb n="N012"/> Herrscher-Familie auf die beherrschten Türken zu übertragen. Tatar <lb n="N013"/> wurde dazu durch falsche Erudition in West-Europa zu Tartaren um- <lb n="N014"/> gewandelt. Ein Wortspiel des heiligen Ludwig drückt diese Erudition <lb n="N015"/> lebhaft aus. Als man die Ankunft der Mongolen oder Tataren selbst <lb n="N016"/> im Westen von Europa fürchtete (die Tataren-Schlacht bei Wahlstadt <lb n="N017"/> in Schlesien war den 9ten April 1241), sagte Ludwig der Heilige zu <lb n="N018"/> seiner Mutter: ,,Erigat nos, mater, coeleste solatium, quia si perve- <lb n="N019"/> niant ipsi, vel nos ipsos, quos vocamus Tartaros, ad suas tar- <lb n="N020"/> tareas sedes, unde exicrunt retrudemus, vel ipsi nos omnes ad coe- <lb n="N021"/> lum advehent.” So haben die ersten spanischen Entdecker wegen der <lb n="N022"/> hundswuthartigen Grausamkeit der Caraiben aus dem ursprünglichen <lb n="N023"/> Namen Carina oder Calina das Wort Canibalen geschmiedet.</note> <note place="foot" n="[footnote-continued reference]"><lb n="N001"/> Seitdem in dem letzt verflossenen halben Jahrhundert so viel <lb n="N002"/> über Menschenracen discutirt worden ist, ist die unrichtige, erst im <lb n="N003"/> dreizehnten Jahrhundert entstandene Verwechselung der Tartaren mit <lb n="N004"/> den Türken in vielen vortrefflichen Schriften verbreitet worden. <lb n="N005"/> Schlözer, Meiners, Adelung und Cuvier haben dazu beige- <lb n="N006"/> tragen. Abel Remusat, der mit Klaproth die ursprüngliche <lb n="N007"/> Identität von Mongolen und Tataren ergründete, schlägt vor, die alte <lb n="N008"/> Benennung Tataren für Mongolen beizubehalten, aber Tartaren <lb n="N009"/> als Collectivnamen für das heterogene Gemisch nordasiatischer Völker <lb n="N010"/> zu gebrauchen, ein Vorschlag, der zu neuen Irrthümern veranlassen <lb n="N011"/> könnte, etwa als wollten wir zwischen Deutschen und Teutschen <lb n="N012"/> unterscheiden.</note> <note place="foot" n="[footnote-continued reference]"><lb n="N001"/> Wenn man bei uns so oft von Tatarischen Gesichtszügen <lb n="N002"/> redet, und darunter ein gewisses Schiefstehen der Augen oder das <lb n="N003"/> Aufgeworfene der Backenknochen versteht, so lässt sich dieser Aus- <lb n="N004"/> druck allerdings durch die alte Identität der Mongolen und Tataren <lb n="N005"/> rechtfertigen; aber die Tataren des Russischen Reiches haben, als <lb n="N006"/> Türken, eine caucasische, den indo-germanischen Stämmen ähnliche</note> </div> </body> </text> </TEI> [109/0143]
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hochgelegenen Hauses, wo wir wohnten, warfen wir N002
noch einen Blick auf den daran stossenden Garten und
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Dnieper unter mongolische Herrschaft. Die Fürsten dieses Reiches N003
von Kiptschak, das sich vom Dniestr bis zu der Jemba in der Kirgi- N004
sen-Steppe erstreckte, nannten sich Tataren oder Mongolen, N005
obgleich die Sage ging, dass Dschingis Chan, ursprünglich Fürst der N006
Kalkas- oder Calcha-Mongolen von türkischem Blute, und Timurs N007
Mutter eine Türkin war. Die Chane, die nach der Zerstückelung N008
des Reichs der Dschingischaniden in Kasan, Astrachan und der Krimm N009
herrschten, hiessen Tataren; ihre Unterthanen und Armeen waren N010
grösstentheils türkisch. Sie selbst nahmen bald die türkische Sprache N011
an, und so entstand der Gebrauch, die Benennung Tataren von der N012
Herrscher-Familie auf die beherrschten Türken zu übertragen. Tatar N013
wurde dazu durch falsche Erudition in West-Europa zu Tartaren um- N014
gewandelt. Ein Wortspiel des heiligen Ludwig drückt diese Erudition N015
lebhaft aus. Als man die Ankunft der Mongolen oder Tataren selbst N016
im Westen von Europa fürchtete (die Tataren-Schlacht bei Wahlstadt N017
in Schlesien war den 9ten April 1241), sagte Ludwig der Heilige zu N018
seiner Mutter: ,,Erigat nos, mater, coeleste solatium, quia si perve- N019
niant ipsi, vel nos ipsos, quos vocamus Tartaros, ad suas tar- N020
tareas sedes, unde exicrunt retrudemus, vel ipsi nos omnes ad coe- N021
lum advehent.” So haben die ersten spanischen Entdecker wegen der N022
hundswuthartigen Grausamkeit der Caraiben aus dem ursprünglichen N023
Namen Carina oder Calina das Wort Canibalen geschmiedet.
[footnote-continued reference] N001
Seitdem in dem letzt verflossenen halben Jahrhundert so viel N002
über Menschenracen discutirt worden ist, ist die unrichtige, erst im N003
dreizehnten Jahrhundert entstandene Verwechselung der Tartaren mit N004
den Türken in vielen vortrefflichen Schriften verbreitet worden. N005
Schlözer, Meiners, Adelung und Cuvier haben dazu beige- N006
tragen. Abel Remusat, der mit Klaproth die ursprüngliche N007
Identität von Mongolen und Tataren ergründete, schlägt vor, die alte N008
Benennung Tataren für Mongolen beizubehalten, aber Tartaren N009
als Collectivnamen für das heterogene Gemisch nordasiatischer Völker N010
zu gebrauchen, ein Vorschlag, der zu neuen Irrthümern veranlassen N011
könnte, etwa als wollten wir zwischen Deutschen und Teutschen N012
unterscheiden.
[footnote-continued reference] N001
Wenn man bei uns so oft von Tatarischen Gesichtszügen N002
redet, und darunter ein gewisses Schiefstehen der Augen oder das N003
Aufgeworfene der Backenknochen versteht, so lässt sich dieser Aus- N004
druck allerdings durch die alte Identität der Mongolen und Tataren N005
rechtfertigen; aber die Tataren des Russischen Reiches haben, als N006
Türken, eine caucasische, den indo-germanischen Stämmen ähnliche
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