Die Au ist zum Walde, der Wald ist zur Wildniß geworden; die Wölfe heulen und kein Mensch ist weit und breit; an den Hängen des Gebirges wogen Sommerlüste und Winterstürme, und mit jeder Minute ein Körnlein Sand, und mit jedem Jahr- hundert eine Bergeswucht rollt in die Tiefe der Schluchten. Und die arme Seele liegt im Feuer. Wieder kommen Menschen in die Einöden und die Hochwälder fallen, und Hütten und Häuser erstehen und eine Gemeinde wird gebildet -- die Seele aus alten, längstuntergegangenen Sonnen liegt in den Gluten des Fegfeuers und ist verlassen und vergessen.
Aber ein Tag geht auf im Jahre, solch' ver- gessenen Seelen zum Troste.
Als Christus der Herr am Kreuz ist gestorben und nur noch der letzte Tropfen Blut in seinem Herzen ist gewesen, da hat ihn sein himmlischer Bater gefragt: "Mein lieber Sohn, die Menschheit ist erlöst; wem willst du den letzten Tropfen deines rosen- farbenen Blutes zukommen lassen?" -- Da hat Christus der Herr geantwortet: "Meiner lieben Mutter, die am Kreuze steht, auf daß ihre Schmer- zen sollen gelindert sein." -- "O nein, mein Kind Jesus," hat darauf die Mutter Maria geantwortet, "wenn du den bitteren Tod willst leiden für die Menschenseelen, so mag ich die Mutterherzens- pein auch noch ertragen, ist sie gleichwol so groß,
Die Au iſt zum Walde, der Wald iſt zur Wildniß geworden; die Wölfe heulen und kein Menſch iſt weit und breit; an den Hängen des Gebirges wogen Sommerlüſte und Winterſtürme, und mit jeder Minute ein Körnlein Sand, und mit jedem Jahr- hundert eine Bergeswucht rollt in die Tiefe der Schluchten. Und die arme Seele liegt im Feuer. Wieder kommen Menſchen in die Einöden und die Hochwälder fallen, und Hütten und Häuſer erſtehen und eine Gemeinde wird gebildet — die Seele aus alten, längſtuntergegangenen Sonnen liegt in den Gluten des Fegfeuers und iſt verlaſſen und vergeſſen.
Aber ein Tag geht auf im Jahre, ſolch’ ver- geſſenen Seelen zum Troſte.
Als Chriſtus der Herr am Kreuz iſt geſtorben und nur noch der letzte Tropfen Blut in ſeinem Herzen iſt geweſen, da hat ihn ſein himmliſcher Bater gefragt: „Mein lieber Sohn, die Menſchheit iſt erlöſt; wem willſt du den letzten Tropfen deines roſen- farbenen Blutes zukommen laſſen?“ — Da hat Chriſtus der Herr geantwortet: „Meiner lieben Mutter, die am Kreuze ſteht, auf daß ihre Schmer- zen ſollen gelindert ſein.“ — „O nein, mein Kind Jeſus,“ hat darauf die Mutter Maria geantwortet, „wenn du den bitteren Tod willſt leiden für die Menſchenſeelen, ſo mag ich die Mutterherzens- pein auch noch ertragen, iſt ſie gleichwol ſo groß,
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Die Au iſt zum Walde, der Wald iſt zur Wildniß
geworden; die Wölfe heulen und kein Menſch iſt
weit und breit; an den Hängen des Gebirges wogen
Sommerlüſte und Winterſtürme, und mit jeder
Minute ein Körnlein Sand, und mit jedem Jahr-
hundert eine Bergeswucht rollt in die Tiefe der
Schluchten. Und die arme Seele liegt im Feuer.
Wieder kommen Menſchen in die Einöden und die
Hochwälder fallen, und Hütten und Häuſer erſtehen
und eine Gemeinde wird gebildet — die Seele aus
alten, längſtuntergegangenen Sonnen liegt in den
Gluten des Fegfeuers und iſt verlaſſen und vergeſſen.
Aber ein Tag geht auf im Jahre, ſolch’ ver-
geſſenen Seelen zum Troſte.
Als Chriſtus der Herr am Kreuz iſt geſtorben
und nur noch der letzte Tropfen Blut in ſeinem
Herzen iſt geweſen, da hat ihn ſein himmliſcher
Bater gefragt: „Mein lieber Sohn, die Menſchheit iſt
erlöſt; wem willſt du den letzten Tropfen deines roſen-
farbenen Blutes zukommen laſſen?“ — Da hat
Chriſtus der Herr geantwortet: „Meiner lieben
Mutter, die am Kreuze ſteht, auf daß ihre Schmer-
zen ſollen gelindert ſein.“ — „O nein, mein Kind
Jeſus,“ hat darauf die Mutter Maria geantwortet,
„wenn du den bitteren Tod willſt leiden für die
Menſchenſeelen, ſo mag ich die Mutterherzens-
pein auch noch ertragen, iſt ſie gleichwol ſo groß,
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/217>, abgerufen am 23.11.2024.
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