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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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trachten. Er war sorgsam in den Mantel geschlagen,
an die Schuhe waren Steigeisen geschnallt, daneben
lag ein Bergstock. In dem halboffenen Ledertäschchen
fanden sich einige verdorrte Brotkrummen und ein
zusammengerolltes Stück Papier. Nach diesem griff
ich und zog es auseinander. Da standen Worte,
Worte in schiefen, regellosen Zeilen, mit Bleistift
unsicher hingedrückt.

Die Worte sind leserlich und lauten:

"Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang
das Meer gesehen und das Augenlicht ver-
loren." -- -- --

So hatte er sein Ziel geschaut. Als Erblin-
deter hatte er das Blatt beschrieben, das letzte
Blatt zu seinen Schriften. Dann hatte er sich wol
hingelegt auf den Steinboden, hatte die eisige Win-
ternacht erwartet und war in derselben gestorben.

Wir bauten aus Steinen einen Wall um den
Todten und wölbten ihn nothdürftig ein. Dann
stiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren
Weg über Miesenbach nach Winkelsteg.

Des andern Morgens zur frühen Stunde
stiegen ihrer Viele empor gegen den grauen Zahn,
und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war
auch dabei, der wußte Vieles von dem Schulmeister
zu erzählen und seine Worte stimmten mit den
Schriften überein.


trachten. Er war ſorgſam in den Mantel geſchlagen,
an die Schuhe waren Steigeiſen geſchnallt, daneben
lag ein Bergſtock. In dem halboffenen Ledertäſchchen
fanden ſich einige verdorrte Brotkrummen und ein
zuſammengerolltes Stück Papier. Nach dieſem griff
ich und zog es auseinander. Da ſtanden Worte,
Worte in ſchiefen, regelloſen Zeilen, mit Bleiſtift
unſicher hingedrückt.

Die Worte ſind leſerlich und lauten:

„Chriſttag. Ich habe bei Sonnenuntergang
das Meer geſehen und das Augenlicht ver-
loren.“ — — —

So hatte er ſein Ziel geſchaut. Als Erblin-
deter hatte er das Blatt beſchrieben, das letzte
Blatt zu ſeinen Schriften. Dann hatte er ſich wol
hingelegt auf den Steinboden, hatte die eiſige Win-
ternacht erwartet und war in derſelben geſtorben.

Wir bauten aus Steinen einen Wall um den
Todten und wölbten ihn nothdürftig ein. Dann
ſtiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren
Weg über Mieſenbach nach Winkelſteg.

Des andern Morgens zur frühen Stunde
ſtiegen ihrer Viele empor gegen den grauen Zahn,
und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war
auch dabei, der wußte Vieles von dem Schulmeiſter
zu erzählen und ſeine Worte ſtimmten mit den
Schriften überein.


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[440/0450] trachten. Er war ſorgſam in den Mantel geſchlagen, an die Schuhe waren Steigeiſen geſchnallt, daneben lag ein Bergſtock. In dem halboffenen Ledertäſchchen fanden ſich einige verdorrte Brotkrummen und ein zuſammengerolltes Stück Papier. Nach dieſem griff ich und zog es auseinander. Da ſtanden Worte, Worte in ſchiefen, regelloſen Zeilen, mit Bleiſtift unſicher hingedrückt. Die Worte ſind leſerlich und lauten: „Chriſttag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer geſehen und das Augenlicht ver- loren.“ — — — So hatte er ſein Ziel geſchaut. Als Erblin- deter hatte er das Blatt beſchrieben, das letzte Blatt zu ſeinen Schriften. Dann hatte er ſich wol hingelegt auf den Steinboden, hatte die eiſige Win- ternacht erwartet und war in derſelben geſtorben. Wir bauten aus Steinen einen Wall um den Todten und wölbten ihn nothdürftig ein. Dann ſtiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren Weg über Mieſenbach nach Winkelſteg. Des andern Morgens zur frühen Stunde ſtiegen ihrer Viele empor gegen den grauen Zahn, und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war auch dabei, der wußte Vieles von dem Schulmeiſter zu erzählen und ſeine Worte ſtimmten mit den Schriften überein.

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/450>, abgerufen am 21.11.2024.