Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

gräber, oder ein dickhalsiger Waldrauchsammler,
der aus dem Ameisenhaufen die Harzkörner hervor-
schafft. Aus diesen Harzkörnern bereitet er den
Weihrauch, das wundersame Korn, dessen Wolken-
schleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß sie
hinsinken vor das Opferbrot und den Herrn sehen.

Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom-
beerlaub wuchert die Süßwurzel; das ist des Hir-
tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin
nascht gerne davon, auf daß sie eine klingende
Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der
Sennin -- merk ich -- geht es oft sonderbar,
wol hat sie viele, gar rechtschaffen viele Worte auf
der Zunge, aber sie hat noch weit mehr Empfin-
dungen im Herzen; sie hat zuletzt keine Worte für
Alle, und so drückt sie sich denn anders aus und
singt ein Lied ohne Worte, das sie hier, so weit
es klingt, den Jodler heißen.

Ich ziehe durch einen von Wildwässern des
Kares ausgerissenen Hohlweg abwärts. Bäume und
Sträuche wölben ihn zu einer düsteren Laube. Ein
kühler Lufthauch fächelt, da stehe ich am schattigen
Ufer eines finsteren Waldsees. Düsteres Gewände
und schlanke, röthlich braune Stämme des Urwal-
des schließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben
sind miteinander verschlungen zu einer dämmerigen
Decke. O, so still -- so still ist's über dem See.

6*

gräber, oder ein dickhalſiger Waldrauchſammler,
der aus dem Ameiſenhaufen die Harzkörner hervor-
ſchafft. Aus dieſen Harzkörnern bereitet er den
Weihrauch, das wunderſame Korn, deſſen Wolken-
ſchleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß ſie
hinſinken vor das Opferbrot und den Herrn ſehen.

Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom-
beerlaub wuchert die Süßwurzel; das iſt des Hir-
tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin
naſcht gerne davon, auf daß ſie eine klingende
Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der
Sennin — merk ich — geht es oft ſonderbar,
wol hat ſie viele, gar rechtſchaffen viele Worte auf
der Zunge, aber ſie hat noch weit mehr Empfin-
dungen im Herzen; ſie hat zuletzt keine Worte für
Alle, und ſo drückt ſie ſich denn anders aus und
ſingt ein Lied ohne Worte, das ſie hier, ſo weit
es klingt, den Jodler heißen.

Ich ziehe durch einen von Wildwäſſern des
Kares ausgeriſſenen Hohlweg abwärts. Bäume und
Sträuche wölben ihn zu einer düſteren Laube. Ein
kühler Lufthauch fächelt, da ſtehe ich am ſchattigen
Ufer eines finſteren Waldſees. Düſteres Gewände
und ſchlanke, röthlich braune Stämme des Urwal-
des ſchließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben
ſind miteinander verſchlungen zu einer dämmerigen
Decke. O, ſo ſtill — ſo ſtill iſt’s über dem See.

6*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0093" n="83"/>
gräber, oder ein dickhal&#x017F;iger Waldrauch&#x017F;ammler,<lb/>
der aus dem Amei&#x017F;enhaufen die Harzkörner hervor-<lb/>
&#x017F;chafft. Aus die&#x017F;en Harzkörnern bereitet er den<lb/>
Weihrauch, das wunder&#x017F;ame Korn, de&#x017F;&#x017F;en Wolken-<lb/>
&#x017F;chleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß &#x017F;ie<lb/>
hin&#x017F;inken vor das Opferbrot und den Herrn &#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom-<lb/>
beerlaub wuchert die Süßwurzel; das i&#x017F;t des Hir-<lb/>
tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin<lb/>
na&#x017F;cht gerne davon, auf daß &#x017F;ie eine klingende<lb/>
Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der<lb/>
Sennin &#x2014; merk ich &#x2014; geht es oft &#x017F;onderbar,<lb/>
wol hat &#x017F;ie viele, gar recht&#x017F;chaffen viele Worte auf<lb/>
der Zunge, aber &#x017F;ie hat noch weit mehr Empfin-<lb/>
dungen im Herzen; &#x017F;ie hat zuletzt keine Worte für<lb/>
Alle, und &#x017F;o drückt &#x017F;ie &#x017F;ich denn anders aus und<lb/>
&#x017F;ingt ein Lied <hi rendition="#g">ohne</hi> Worte, das &#x017F;ie hier, &#x017F;o weit<lb/>
es klingt, den Jodler heißen.</p><lb/>
          <p>Ich ziehe durch einen von Wildwä&#x017F;&#x017F;ern des<lb/>
Kares ausgeri&#x017F;&#x017F;enen Hohlweg abwärts. Bäume und<lb/>
Sträuche wölben ihn zu einer dü&#x017F;teren Laube. Ein<lb/>
kühler Lufthauch fächelt, da &#x017F;tehe ich am &#x017F;chattigen<lb/>
Ufer eines fin&#x017F;teren Wald&#x017F;ees. Dü&#x017F;teres Gewände<lb/>
und &#x017F;chlanke, röthlich braune Stämme des Urwal-<lb/>
des &#x017F;chließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben<lb/>
&#x017F;ind miteinander ver&#x017F;chlungen zu einer dämmerigen<lb/>
Decke. O, &#x017F;o &#x017F;till &#x2014; &#x017F;o &#x017F;till i&#x017F;t&#x2019;s über dem See.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0093] gräber, oder ein dickhalſiger Waldrauchſammler, der aus dem Ameiſenhaufen die Harzkörner hervor- ſchafft. Aus dieſen Harzkörnern bereitet er den Weihrauch, das wunderſame Korn, deſſen Wolken- ſchleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß ſie hinſinken vor das Opferbrot und den Herrn ſehen. Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom- beerlaub wuchert die Süßwurzel; das iſt des Hir- tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin naſcht gerne davon, auf daß ſie eine klingende Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der Sennin — merk ich — geht es oft ſonderbar, wol hat ſie viele, gar rechtſchaffen viele Worte auf der Zunge, aber ſie hat noch weit mehr Empfin- dungen im Herzen; ſie hat zuletzt keine Worte für Alle, und ſo drückt ſie ſich denn anders aus und ſingt ein Lied ohne Worte, das ſie hier, ſo weit es klingt, den Jodler heißen. Ich ziehe durch einen von Wildwäſſern des Kares ausgeriſſenen Hohlweg abwärts. Bäume und Sträuche wölben ihn zu einer düſteren Laube. Ein kühler Lufthauch fächelt, da ſtehe ich am ſchattigen Ufer eines finſteren Waldſees. Düſteres Gewände und ſchlanke, röthlich braune Stämme des Urwal- des ſchließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben ſind miteinander verſchlungen zu einer dämmerigen Decke. O, ſo ſtill — ſo ſtill iſt’s über dem See. 6*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/93
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/93>, abgerufen am 15.05.2024.