gräber, oder ein dickhalsiger Waldrauchsammler, der aus dem Ameisenhaufen die Harzkörner hervor- schafft. Aus diesen Harzkörnern bereitet er den Weihrauch, das wundersame Korn, dessen Wolken- schleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß sie hinsinken vor das Opferbrot und den Herrn sehen.
Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom- beerlaub wuchert die Süßwurzel; das ist des Hir- tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin nascht gerne davon, auf daß sie eine klingende Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der Sennin -- merk ich -- geht es oft sonderbar, wol hat sie viele, gar rechtschaffen viele Worte auf der Zunge, aber sie hat noch weit mehr Empfin- dungen im Herzen; sie hat zuletzt keine Worte für Alle, und so drückt sie sich denn anders aus und singt ein Lied ohne Worte, das sie hier, so weit es klingt, den Jodler heißen.
Ich ziehe durch einen von Wildwässern des Kares ausgerissenen Hohlweg abwärts. Bäume und Sträuche wölben ihn zu einer düsteren Laube. Ein kühler Lufthauch fächelt, da stehe ich am schattigen Ufer eines finsteren Waldsees. Düsteres Gewände und schlanke, röthlich braune Stämme des Urwal- des schließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben sind miteinander verschlungen zu einer dämmerigen Decke. O, so still -- so still ist's über dem See.
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gräber, oder ein dickhalſiger Waldrauchſammler, der aus dem Ameiſenhaufen die Harzkörner hervor- ſchafft. Aus dieſen Harzkörnern bereitet er den Weihrauch, das wunderſame Korn, deſſen Wolken- ſchleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß ſie hinſinken vor das Opferbrot und den Herrn ſehen.
Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom- beerlaub wuchert die Süßwurzel; das iſt des Hir- tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin naſcht gerne davon, auf daß ſie eine klingende Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der Sennin — merk ich — geht es oft ſonderbar, wol hat ſie viele, gar rechtſchaffen viele Worte auf der Zunge, aber ſie hat noch weit mehr Empfin- dungen im Herzen; ſie hat zuletzt keine Worte für Alle, und ſo drückt ſie ſich denn anders aus und ſingt ein Lied ohne Worte, das ſie hier, ſo weit es klingt, den Jodler heißen.
Ich ziehe durch einen von Wildwäſſern des Kares ausgeriſſenen Hohlweg abwärts. Bäume und Sträuche wölben ihn zu einer düſteren Laube. Ein kühler Lufthauch fächelt, da ſtehe ich am ſchattigen Ufer eines finſteren Waldſees. Düſteres Gewände und ſchlanke, röthlich braune Stämme des Urwal- des ſchließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben ſind miteinander verſchlungen zu einer dämmerigen Decke. O, ſo ſtill — ſo ſtill iſt’s über dem See.
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gräber, oder ein dickhalſiger Waldrauchſammler,
der aus dem Ameiſenhaufen die Harzkörner hervor-
ſchafft. Aus dieſen Harzkörnern bereitet er den
Weihrauch, das wunderſame Korn, deſſen Wolken-
ſchleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß ſie
hinſinken vor das Opferbrot und den Herrn ſehen.
Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brom-
beerlaub wuchert die Süßwurzel; das iſt des Hir-
tenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin
naſcht gerne davon, auf daß ſie eine klingende
Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der
Sennin — merk ich — geht es oft ſonderbar,
wol hat ſie viele, gar rechtſchaffen viele Worte auf
der Zunge, aber ſie hat noch weit mehr Empfin-
dungen im Herzen; ſie hat zuletzt keine Worte für
Alle, und ſo drückt ſie ſich denn anders aus und
ſingt ein Lied ohne Worte, das ſie hier, ſo weit
es klingt, den Jodler heißen.
Ich ziehe durch einen von Wildwäſſern des
Kares ausgeriſſenen Hohlweg abwärts. Bäume und
Sträuche wölben ihn zu einer düſteren Laube. Ein
kühler Lufthauch fächelt, da ſtehe ich am ſchattigen
Ufer eines finſteren Waldſees. Düſteres Gewände
und ſchlanke, röthlich braune Stämme des Urwal-
des ſchließen ihn ein, und die Wipfelkronen oben
ſind miteinander verſchlungen zu einer dämmerigen
Decke. O, ſo ſtill — ſo ſtill iſt’s über dem See.
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/93>, abgerufen am 23.11.2024.
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