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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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tivität der historischen Treue weit weniger genau zu nehmen,
als mit der physischen und psychologischen. Die gelehrte Ge¬
nauigkeit in der geschichtlichen Aeußerlichkeit kann niemals
Zweck der Kunst sein, weil diese mehr will, als unterrichten.
Fällt, wie bei Walter Scott, die antiquarische Treue mit
dem poetischen Reiz zusammen, so wird dies sehr angenehm
sein, nicht aber darf umgekehrt die Poesie in der Gelehr¬
samkeit untergehen; sind Productionen sogleich in dieser didak¬
tischen Tendenz geschrieben, wie Barthelemy's Voyage en
Grece,
wie Beckers Charikles und Gallus, so wird von
vorn herein zugestanden, daß es sich nur um eine angenehme
Einkleidung des Nützlichen handle und die Prätension des
Kunstwerks fällt fort. Dem Künstler gestehen wir unbedingt
eine gewisse Läßlichkeit in allen Außenwerken einer historischen
Composition zu, wenn er uns nur den Menschen bringt.
Selbst an Anachronismen stoßen wir uns nicht, falls sie
nicht geradezu widersinnig werden oder falls sie keinen
künstlerischen Effect hervorbringen, der sie zu rechtfertigen
vermöchte.

In dieser Freiheit haben große Künstler die Geschichte
behandelt, ohne daß wir ihnen die Freiheiten, die sie sich ge¬
nommen, als Incorrectheiten anrechneten. So hat Shake¬
speare
nicht nur die Englische, sondern auch die Römische
Geschichte behandelt. Seine Römer sind in gewissem Sinn
auch Engländer, aber sie sind vor Allem wirkliche Menschen,
Plebejer, Aristokraten, voll ewig wahrer Affecte und Leiden¬
schaften. Was die Kleinmeisterei bei ihm historische Incorrect¬
heit genannt hat, zeigt sich bei genauerer Kritik poetisch
motivirt. Im Wintermährchen läßt er das Meer an
Böhmens Küste branden. Welche Ignoranz, kann hier der
Pedantismus ausrufen! Aber es ist eben ein Mährchen und

tivität der hiſtoriſchen Treue weit weniger genau zu nehmen,
als mit der phyſiſchen und pſychologiſchen. Die gelehrte Ge¬
nauigkeit in der geſchichtlichen Aeußerlichkeit kann niemals
Zweck der Kunſt ſein, weil dieſe mehr will, als unterrichten.
Fällt, wie bei Walter Scott, die antiquariſche Treue mit
dem poetiſchen Reiz zuſammen, ſo wird dies ſehr angenehm
ſein, nicht aber darf umgekehrt die Poeſie in der Gelehr¬
ſamkeit untergehen; ſind Productionen ſogleich in dieſer didak¬
tiſchen Tendenz geſchrieben, wie Barthelemy's Voyage en
Grêce,
wie Beckers Charikles und Gallus, ſo wird von
vorn herein zugeſtanden, daß es ſich nur um eine angenehme
Einkleidung des Nützlichen handle und die Prätenſion des
Kunſtwerks fällt fort. Dem Künſtler geſtehen wir unbedingt
eine gewiſſe Läßlichkeit in allen Außenwerken einer hiſtoriſchen
Compoſition zu, wenn er uns nur den Menſchen bringt.
Selbſt an Anachronismen ſtoßen wir uns nicht, falls ſie
nicht geradezu widerſinnig werden oder falls ſie keinen
künſtleriſchen Effect hervorbringen, der ſie zu rechtfertigen
vermöchte.

In dieſer Freiheit haben große Künſtler die Geſchichte
behandelt, ohne daß wir ihnen die Freiheiten, die ſie ſich ge¬
nommen, als Incorrectheiten anrechneten. So hat Shake¬
ſpeare
nicht nur die Engliſche, ſondern auch die Römiſche
Geſchichte behandelt. Seine Römer ſind in gewiſſem Sinn
auch Engländer, aber ſie ſind vor Allem wirkliche Menſchen,
Plebejer, Ariſtokraten, voll ewig wahrer Affecte und Leiden¬
ſchaften. Was die Kleinmeiſterei bei ihm hiſtoriſche Incorrect¬
heit genannt hat, zeigt ſich bei genauerer Kritik poetiſch
motivirt. Im Wintermährchen läßt er das Meer an
Böhmens Küſte branden. Welche Ignoranz, kann hier der
Pedantismus ausrufen! Aber es iſt eben ein Mährchen und

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[124/0146] tivität der hiſtoriſchen Treue weit weniger genau zu nehmen, als mit der phyſiſchen und pſychologiſchen. Die gelehrte Ge¬ nauigkeit in der geſchichtlichen Aeußerlichkeit kann niemals Zweck der Kunſt ſein, weil dieſe mehr will, als unterrichten. Fällt, wie bei Walter Scott, die antiquariſche Treue mit dem poetiſchen Reiz zuſammen, ſo wird dies ſehr angenehm ſein, nicht aber darf umgekehrt die Poeſie in der Gelehr¬ ſamkeit untergehen; ſind Productionen ſogleich in dieſer didak¬ tiſchen Tendenz geſchrieben, wie Barthelemy's Voyage en Grêce, wie Beckers Charikles und Gallus, ſo wird von vorn herein zugeſtanden, daß es ſich nur um eine angenehme Einkleidung des Nützlichen handle und die Prätenſion des Kunſtwerks fällt fort. Dem Künſtler geſtehen wir unbedingt eine gewiſſe Läßlichkeit in allen Außenwerken einer hiſtoriſchen Compoſition zu, wenn er uns nur den Menſchen bringt. Selbſt an Anachronismen ſtoßen wir uns nicht, falls ſie nicht geradezu widerſinnig werden oder falls ſie keinen künſtleriſchen Effect hervorbringen, der ſie zu rechtfertigen vermöchte. In dieſer Freiheit haben große Künſtler die Geſchichte behandelt, ohne daß wir ihnen die Freiheiten, die ſie ſich ge¬ nommen, als Incorrectheiten anrechneten. So hat Shake¬ ſpeare nicht nur die Engliſche, ſondern auch die Römiſche Geſchichte behandelt. Seine Römer ſind in gewiſſem Sinn auch Engländer, aber ſie ſind vor Allem wirkliche Menſchen, Plebejer, Ariſtokraten, voll ewig wahrer Affecte und Leiden¬ ſchaften. Was die Kleinmeiſterei bei ihm hiſtoriſche Incorrect¬ heit genannt hat, zeigt ſich bei genauerer Kritik poetiſch motivirt. Im Wintermährchen läßt er das Meer an Böhmens Küſte branden. Welche Ignoranz, kann hier der Pedantismus ausrufen! Aber es iſt eben ein Mährchen und

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/146>, abgerufen am 23.11.2024.