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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Schule z. B. hat uns die Maria als ein Deutsches Mädchen
gemalt, das in einem wohlgetäfelten Zimmer vor einem
nußbraunen Betpult knieet und die Verkündung des Engels
vernimmt. Teppiche schmücken den Boden; ein Blumentopf
mit Lilien prangt in einer Ecke; durch das Fenster blicken
wir auf die burgengeschmückten Ufer des Rheins. Diese
ganze Decoration ist für das Factum objectiv unmöglich,
denn in Palästina vor Christi Geburt konnte es natürlich
nicht so ausgesehen haben, wie in einer Rheinischen Bürger¬
stube des Mittelalters. Insofern ist also diese ganze Um¬
gebung, dies Costüm, dieser Ledergürtel, dies goldblonde
Haar, dies blaue Auge, dies Deutsche Profil unhistorisch
und incorrect. Aber, fragen wir, ist in der betend hinge¬
gossenen Gestalt, in den Zügen des Antlitzes, im Blick des
Auges, die Demuth, die jungfräuliche Hoheit, die sehn¬
süchtig fromme Gläubigkeit enthalten? Finden wir dies und
finden wir es in seiner natürlichen und psychologischen Cor¬
rectheit dargestellt, so ist das historisch Conventionelle Neben¬
sache; die Jungfräulichkeit der Empfängniß, der christliche
Gegensatz zur wollüstigen Conception einer Danae, das ist
die Idee des Bildes und diese Idee ist realisirt.

Im Interesse der Schönheit müssen wir dem Künstler
auch die Umbildung der Mythe und Geschichte zugestehen, so¬
fern er dadurch den poetischen Gehalt derselben idealer her¬
ausstellt, nicht, wie Euripides, durch seine Veränderung
eine Deformation hevorbringt. Kein großer Künstler hat
sich vor der Schuld solcher Umbildungen gescheuet, weil solche
Schuld das Verdienst hat, die ästhetische Correctur der
historischen Ueberlieferung zu sein. Wie Shakespeare,
Göthe, Schiller, die Geschichte verändert haben, ist da¬
durch die historische Wahrheit in ihrem Wesen nicht verletzt.

Schule z. B. hat uns die Maria als ein Deutſches Mädchen
gemalt, das in einem wohlgetäfelten Zimmer vor einem
nußbraunen Betpult knieet und die Verkündung des Engels
vernimmt. Teppiche ſchmücken den Boden; ein Blumentopf
mit Lilien prangt in einer Ecke; durch das Fenſter blicken
wir auf die burgengeſchmückten Ufer des Rheins. Dieſe
ganze Decoration iſt für das Factum objectiv unmöglich,
denn in Paläſtina vor Chriſti Geburt konnte es natürlich
nicht ſo ausgeſehen haben, wie in einer Rheiniſchen Bürger¬
ſtube des Mittelalters. Inſofern iſt alſo dieſe ganze Um¬
gebung, dies Coſtüm, dieſer Ledergürtel, dies goldblonde
Haar, dies blaue Auge, dies Deutſche Profil unhiſtoriſch
und incorrect. Aber, fragen wir, iſt in der betend hinge¬
goſſenen Geſtalt, in den Zügen des Antlitzes, im Blick des
Auges, die Demuth, die jungfräuliche Hoheit, die ſehn¬
ſüchtig fromme Gläubigkeit enthalten? Finden wir dies und
finden wir es in ſeiner natürlichen und pſychologiſchen Cor¬
rectheit dargeſtellt, ſo iſt das hiſtoriſch Conventionelle Neben¬
ſache; die Jungfräulichkeit der Empfängniß, der chriſtliche
Gegenſatz zur wollüſtigen Conception einer Danaë, das iſt
die Idee des Bildes und dieſe Idee iſt realiſirt.

Im Intereſſe der Schönheit müſſen wir dem Künſtler
auch die Umbildung der Mythe und Geſchichte zugeſtehen, ſo¬
fern er dadurch den poetiſchen Gehalt derſelben idealer her¬
ausſtellt, nicht, wie Euripides, durch ſeine Veränderung
eine Deformation hevorbringt. Kein großer Künſtler hat
ſich vor der Schuld ſolcher Umbildungen geſcheuet, weil ſolche
Schuld das Verdienſt hat, die äſthetiſche Correctur der
hiſtoriſchen Ueberlieferung zu ſein. Wie Shakeſpeare,
Göthe, Schiller, die Geſchichte verändert haben, iſt da¬
durch die hiſtoriſche Wahrheit in ihrem Weſen nicht verletzt.

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[126/0148] Schule z. B. hat uns die Maria als ein Deutſches Mädchen gemalt, das in einem wohlgetäfelten Zimmer vor einem nußbraunen Betpult knieet und die Verkündung des Engels vernimmt. Teppiche ſchmücken den Boden; ein Blumentopf mit Lilien prangt in einer Ecke; durch das Fenſter blicken wir auf die burgengeſchmückten Ufer des Rheins. Dieſe ganze Decoration iſt für das Factum objectiv unmöglich, denn in Paläſtina vor Chriſti Geburt konnte es natürlich nicht ſo ausgeſehen haben, wie in einer Rheiniſchen Bürger¬ ſtube des Mittelalters. Inſofern iſt alſo dieſe ganze Um¬ gebung, dies Coſtüm, dieſer Ledergürtel, dies goldblonde Haar, dies blaue Auge, dies Deutſche Profil unhiſtoriſch und incorrect. Aber, fragen wir, iſt in der betend hinge¬ goſſenen Geſtalt, in den Zügen des Antlitzes, im Blick des Auges, die Demuth, die jungfräuliche Hoheit, die ſehn¬ ſüchtig fromme Gläubigkeit enthalten? Finden wir dies und finden wir es in ſeiner natürlichen und pſychologiſchen Cor¬ rectheit dargeſtellt, ſo iſt das hiſtoriſch Conventionelle Neben¬ ſache; die Jungfräulichkeit der Empfängniß, der chriſtliche Gegenſatz zur wollüſtigen Conception einer Danaë, das iſt die Idee des Bildes und dieſe Idee iſt realiſirt. Im Intereſſe der Schönheit müſſen wir dem Künſtler auch die Umbildung der Mythe und Geſchichte zugeſtehen, ſo¬ fern er dadurch den poetiſchen Gehalt derſelben idealer her¬ ausſtellt, nicht, wie Euripides, durch ſeine Veränderung eine Deformation hevorbringt. Kein großer Künſtler hat ſich vor der Schuld ſolcher Umbildungen geſcheuet, weil ſolche Schuld das Verdienſt hat, die äſthetiſche Correctur der hiſtoriſchen Ueberlieferung zu ſein. Wie Shakeſpeare, Göthe, Schiller, die Geſchichte verändert haben, iſt da¬ durch die hiſtoriſche Wahrheit in ihrem Weſen nicht verletzt.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/148>, abgerufen am 27.11.2024.