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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Normalgröße des Lappländers. Der Buschmann hingegen,
dessen Kopf groß, dessen Schenkel dünn, dessen Beine fast
wadenlos sind, streift schon in's Affenartige und wird hiermit
zu einer Caricatur der Menschengestalt. Ein particuläres
Moment in seiner einseitigen Ueberwucherung bringt in der
Gestalt erst diejenige Entzweiung hervor, die Caricatur zu
heißen verdient, wenn wir auch, wie schon erinnert, geneigt
sind, alles Häßliche als eine Verzerrung des Schönen auf¬
zufassen. Wir stehen z. B. im gewöhnlichen Leben nicht
an, etwa die Phorkyas eine Caricatur zu nennen, weil
sie, der schönen Helena gegenüber, uns die Häßlichkeit über¬
haupt, das ästhetisch Böse, repräsentirt. Im engern Sinn
aber sind diese zahnlosen Kiefern, diese Runzeln, diese fleisch¬
losen Arme, dieser platte, welke Busen, diese eilig langsame
Geberde, nur einfach häßlich und fast in's Grauenhafte hin¬
überschwankend. Um Caricatur zu sein, müßte an der Phor¬
kyas ein besonderer Punct der Verbildung ins Abnorme
tendiren, den man aber an ihr nicht findet, es wäre denn
höchstens ihre extreme, skelettartige Magerkeit; wie umge¬
kehrt uns auch die Riesendamen der Jahrmärkte nicht durch
ihre Größe, sondern durch ihre unförmliche Dicke, als Zerr¬
gestalten zu erscheinen pflegen. Der Bruch in einer Gestalt
muß zur Carikirung die Unfreiheit zum Inhalt und die End¬
lichkeit zur Form haben, allein er muß zugleich den Schein
der Freiheit besitzen, denn ohne diesen sinkt die Erscheinung
theils in die bloße Gemeinheit, theils in die bloße Widrig¬
keit zurück. Je größer dieser Schein der Freiheit wird, um
so mehr wird die Caricatur komödisch begeistet. Die Ueber¬
treibung des Charakteristischen, die Ueberladung mit dem
Unmaaß, muß als ihre eigene That erscheinen. Das Lustspiel
liebt daher, den Widerspruch der Meinung der Menschen

Normalgröße des Lappländers. Der Buſchmann hingegen,
deſſen Kopf groß, deſſen Schenkel dünn, deſſen Beine faſt
wadenlos ſind, ſtreift ſchon in's Affenartige und wird hiermit
zu einer Caricatur der Menſchengeſtalt. Ein particuläres
Moment in ſeiner einſeitigen Ueberwucherung bringt in der
Geſtalt erſt diejenige Entzweiung hervor, die Caricatur zu
heißen verdient, wenn wir auch, wie ſchon erinnert, geneigt
ſind, alles Häßliche als eine Verzerrung des Schönen auf¬
zufaſſen. Wir ſtehen z. B. im gewöhnlichen Leben nicht
an, etwa die Phorkyas eine Caricatur zu nennen, weil
ſie, der ſchönen Helena gegenüber, uns die Häßlichkeit über¬
haupt, das äſthetiſch Böſe, repräſentirt. Im engern Sinn
aber ſind dieſe zahnloſen Kiefern, dieſe Runzeln, dieſe fleiſch¬
loſen Arme, dieſer platte, welke Buſen, dieſe eilig langſame
Geberde, nur einfach häßlich und faſt in's Grauenhafte hin¬
überſchwankend. Um Caricatur zu ſein, müßte an der Phor¬
kyas ein beſonderer Punct der Verbildung ins Abnorme
tendiren, den man aber an ihr nicht findet, es wäre denn
höchſtens ihre extreme, ſkelettartige Magerkeit; wie umge¬
kehrt uns auch die Rieſendamen der Jahrmärkte nicht durch
ihre Größe, ſondern durch ihre unförmliche Dicke, als Zerr¬
geſtalten zu erſcheinen pflegen. Der Bruch in einer Geſtalt
muß zur Carikirung die Unfreiheit zum Inhalt und die End¬
lichkeit zur Form haben, allein er muß zugleich den Schein
der Freiheit beſitzen, denn ohne dieſen ſinkt die Erſcheinung
theils in die bloße Gemeinheit, theils in die bloße Widrig¬
keit zurück. Je größer dieſer Schein der Freiheit wird, um
ſo mehr wird die Caricatur komödiſch begeiſtet. Die Ueber¬
treibung des Charakteriſtiſchen, die Ueberladung mit dem
Unmaaß, muß als ihre eigene That erſcheinen. Das Luſtſpiel
liebt daher, den Widerſpruch der Meinung der Menſchen

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[174/0196] Normalgröße des Lappländers. Der Buſchmann hingegen, deſſen Kopf groß, deſſen Schenkel dünn, deſſen Beine faſt wadenlos ſind, ſtreift ſchon in's Affenartige und wird hiermit zu einer Caricatur der Menſchengeſtalt. Ein particuläres Moment in ſeiner einſeitigen Ueberwucherung bringt in der Geſtalt erſt diejenige Entzweiung hervor, die Caricatur zu heißen verdient, wenn wir auch, wie ſchon erinnert, geneigt ſind, alles Häßliche als eine Verzerrung des Schönen auf¬ zufaſſen. Wir ſtehen z. B. im gewöhnlichen Leben nicht an, etwa die Phorkyas eine Caricatur zu nennen, weil ſie, der ſchönen Helena gegenüber, uns die Häßlichkeit über¬ haupt, das äſthetiſch Böſe, repräſentirt. Im engern Sinn aber ſind dieſe zahnloſen Kiefern, dieſe Runzeln, dieſe fleiſch¬ loſen Arme, dieſer platte, welke Buſen, dieſe eilig langſame Geberde, nur einfach häßlich und faſt in's Grauenhafte hin¬ überſchwankend. Um Caricatur zu ſein, müßte an der Phor¬ kyas ein beſonderer Punct der Verbildung ins Abnorme tendiren, den man aber an ihr nicht findet, es wäre denn höchſtens ihre extreme, ſkelettartige Magerkeit; wie umge¬ kehrt uns auch die Rieſendamen der Jahrmärkte nicht durch ihre Größe, ſondern durch ihre unförmliche Dicke, als Zerr¬ geſtalten zu erſcheinen pflegen. Der Bruch in einer Geſtalt muß zur Carikirung die Unfreiheit zum Inhalt und die End¬ lichkeit zur Form haben, allein er muß zugleich den Schein der Freiheit beſitzen, denn ohne dieſen ſinkt die Erſcheinung theils in die bloße Gemeinheit, theils in die bloße Widrig¬ keit zurück. Je größer dieſer Schein der Freiheit wird, um ſo mehr wird die Caricatur komödiſch begeiſtet. Die Ueber¬ treibung des Charakteriſtiſchen, die Ueberladung mit dem Unmaaß, muß als ihre eigene That erſcheinen. Das Luſtſpiel liebt daher, den Widerſpruch der Meinung der Menſchen

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/196>, abgerufen am 24.11.2024.