schneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt seine Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im Sack steckend, noch einige rührende Reden hält, voll senti¬ mentaler Leidenschaft für den König, der in der Kneipe hatte ermordet werden sollen, wohin er sich gestohlen, um bei der Schwester des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬ zubringen. Hierauf stirbt sie; ein herbeieilender Chirurg er¬ klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß seine Tochter nun wirklich todt sei, worauf Triboulet sich nicht einmal ermordet, sondern nur die Besinnung verliert, während der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt mit den Vorgängen um sich herum, ausgeschlafen und trällernd von dannen geht! Diese Straflosigkeit ist offenbar die ärgste Brutalität in diesem Schauspiel, das so recht eine Muster¬ karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen, wollten wir uns noch auf andere Dramen dieses Dichters einlassen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß seit Victor Hugo die Verletzung der poetischen Gerechtigkeit bei den Franzosen nichts Seltenes geworden ist. Eine der gländzendsten Rollen der Rachel ist die der Adrienne Le¬ couvreur, welche Scribe eigends für sie geschrieben. Adrienne, eine Schauspielerin, welcher der Marschall von Sachsen den Hof macht, empfängt von der eifersüchtigen Geliebten desselben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬ gifteten Blumenstrauß, der sie richtig tödtet, während die Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieses Stücks ist aber nicht einmal diese Dissonanz, sondern die pathologisch exacte Darstellung des Sterbens der Unglücklichen. Alle Phasen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬ zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Cameliendame
ſchneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt ſeine Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im Sack ſteckend, noch einige rührende Reden hält, voll ſenti¬ mentaler Leidenſchaft für den König, der in der Kneipe hatte ermordet werden ſollen, wohin er ſich geſtohlen, um bei der Schweſter des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬ zubringen. Hierauf ſtirbt ſie; ein herbeieilender Chirurg er¬ klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß ſeine Tochter nun wirklich todt ſei, worauf Triboulet ſich nicht einmal ermordet, ſondern nur die Beſinnung verliert, während der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt mit den Vorgängen um ſich herum, ausgeſchlafen und trällernd von dannen geht! Dieſe Strafloſigkeit iſt offenbar die ärgſte Brutalität in dieſem Schauſpiel, das ſo recht eine Muſter¬ karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen, wollten wir uns noch auf andere Dramen dieſes Dichters einlaſſen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß ſeit Victor Hugo die Verletzung der poetiſchen Gerechtigkeit bei den Franzoſen nichts Seltenes geworden iſt. Eine der gländzendſten Rollen der Rachel iſt die der Adrienne Le¬ couvreur, welche Scribe eigends für ſie geſchrieben. Adrienne, eine Schauſpielerin, welcher der Marſchall von Sachſen den Hof macht, empfängt von der eiferſüchtigen Geliebten deſſelben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬ gifteten Blumenſtrauß, der ſie richtig tödtet, während die Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieſes Stücks iſt aber nicht einmal dieſe Diſſonanz, ſondern die pathologiſch exacte Darſtellung des Sterbens der Unglücklichen. Alle Phaſen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬ zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Caméliendame
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0283"n="261"/>ſchneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt ſeine<lb/>
Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im<lb/>
Sack ſteckend, noch einige rührende Reden hält, voll ſenti¬<lb/>
mentaler Leidenſchaft für den König, der in der Kneipe<lb/>
hatte ermordet werden ſollen, wohin er ſich geſtohlen, um<lb/>
bei der Schweſter des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬<lb/>
zubringen. Hierauf ſtirbt ſie; ein herbeieilender Chirurg er¬<lb/>
klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß ſeine<lb/>
Tochter nun wirklich todt ſei, worauf Triboulet ſich nicht<lb/>
einmal ermordet, ſondern nur die Beſinnung verliert, während<lb/>
der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt<lb/>
mit den Vorgängen um ſich herum, ausgeſchlafen und trällernd<lb/>
von dannen geht! Dieſe Strafloſigkeit iſt offenbar die ärgſte<lb/>
Brutalität in dieſem Schauſpiel, das ſo recht eine Muſter¬<lb/>
karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen,<lb/>
wollten wir uns noch auf andere Dramen dieſes Dichters<lb/>
einlaſſen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß<lb/>ſeit Victor Hugo die Verletzung der poetiſchen Gerechtigkeit<lb/>
bei den Franzoſen nichts Seltenes geworden iſt. Eine der<lb/>
gländzendſten Rollen der <hirendition="#g">Rachel</hi> iſt die der <hirendition="#g">Adrienne Le¬<lb/>
couvreur</hi>, welche <hirendition="#g">Scribe</hi> eigends für ſie geſchrieben.<lb/>
Adrienne, eine Schauſpielerin, welcher der Marſchall von<lb/>
Sachſen den Hof macht, empfängt von der eiferſüchtigen<lb/>
Geliebten deſſelben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬<lb/>
gifteten Blumenſtrauß, der ſie richtig tödtet, während die<lb/>
Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieſes<lb/>
Stücks iſt aber nicht einmal dieſe Diſſonanz, ſondern die<lb/>
pathologiſch exacte Darſtellung des Sterbens der Unglücklichen.<lb/>
Alle Phaſen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren<lb/>
gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬<lb/>
zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Cam<hirendition="#aq">é</hi>liendame<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[261/0283]
ſchneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt ſeine
Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im
Sack ſteckend, noch einige rührende Reden hält, voll ſenti¬
mentaler Leidenſchaft für den König, der in der Kneipe
hatte ermordet werden ſollen, wohin er ſich geſtohlen, um
bei der Schweſter des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬
zubringen. Hierauf ſtirbt ſie; ein herbeieilender Chirurg er¬
klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß ſeine
Tochter nun wirklich todt ſei, worauf Triboulet ſich nicht
einmal ermordet, ſondern nur die Beſinnung verliert, während
der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt
mit den Vorgängen um ſich herum, ausgeſchlafen und trällernd
von dannen geht! Dieſe Strafloſigkeit iſt offenbar die ärgſte
Brutalität in dieſem Schauſpiel, das ſo recht eine Muſter¬
karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen,
wollten wir uns noch auf andere Dramen dieſes Dichters
einlaſſen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß
ſeit Victor Hugo die Verletzung der poetiſchen Gerechtigkeit
bei den Franzoſen nichts Seltenes geworden iſt. Eine der
gländzendſten Rollen der Rachel iſt die der Adrienne Le¬
couvreur, welche Scribe eigends für ſie geſchrieben.
Adrienne, eine Schauſpielerin, welcher der Marſchall von
Sachſen den Hof macht, empfängt von der eiferſüchtigen
Geliebten deſſelben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬
gifteten Blumenſtrauß, der ſie richtig tödtet, während die
Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieſes
Stücks iſt aber nicht einmal dieſe Diſſonanz, ſondern die
pathologiſch exacte Darſtellung des Sterbens der Unglücklichen.
Alle Phaſen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren
gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬
zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Caméliendame
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/283>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.