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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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typen Nuditäten einer wahren Bordellphantasie zusammen¬
schrumpft. Wir Deutsche haben uns zwar auch zuweilen
im Frivolen versucht, aber gegen die Franzosen gehalten
sind wir immer nur blöde Schüler derselben gewesen; selbst
wenn wir den dürrsten Rationalismus und doctrinärsten
Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬
dern, daß nicht das Gemüth sich in naiven Inconsequenzen
geltend mache, wie einem Bergsee, dessen klare Oberfläche
zu stagniren scheint, unterirdische Zuflüsse in der Tiefe ein
heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph
Gottschall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deesse
de la raison
der alten Französischen Revolution, besungen.
Aber wie keusch, wie romantisch, wie tragisch ist dieser
Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er sich bemühet, die
Vernunftgöttin durch eine schmerzliche, lange Erfahrung hin¬
durch in sich zu vertiefen, so daß sie nicht blos als ein
schönes Phantom der Sinnlichkeit erscheint, vielmehr mit
Geist und Herz des Namens einer Göttin würdig sein will
und an der unausbleiblichen Enttäuschung dieses Wahns,
als Robespierre den Glauben an Gott als das höchste
Wesen decretirt, in wahnsinniger Verzweiflung untergeht;
wie hat der Dichter ächt Deutsch ihren Schritt, sich allem
Volk ausstellen zu lassen, durch die Liebe zu ihrem Gatten
motivirt, den sie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬
sophisch steht dieser Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬
schen Standpunct, allein sein anthropologisch revolutionaires
Pathos ist in sich gebrochen und verliert sich theils in die
weichsten elegischen Töne, theils in dithyrambische Ausbrüche
skeptischen Wahnsinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint
die Schönheit der schaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel
und der Innigkeit einer Madonna, denn

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typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬
ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen
im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten
ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt
wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten
Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬
dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen
geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche
zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein
heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph
Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse
de la raison
der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen.
Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer
Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die
Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬
durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein
ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit
Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will
und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns,
als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte
Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht;
wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem
Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten
motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬
ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬
ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires
Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die
weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche
ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint
die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel
und der Innigkeit einer Madonna, denn

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[275/0297] typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬ ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬ dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse de la raison der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen. Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬ durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns, als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht; wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬ ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬ ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel und der Innigkeit einer Madonna, denn 18 *

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/297>, abgerufen am 22.11.2024.