Ingres' berühmte Odaliske ist ein solches Bild. Die Gestalt ist eben so unvergleichlich, als die Ausführung, aber die ganze Situation athmet nur Sinnlichkeit. Ein ge¬ schlossenes, enges Gemach; schwerseidene Polster und Vor¬ hänge, kein Blick hinaus in die freie Natur; auf einem Teppich neben dem Lager, auf welchem die schlanküppige, sammthäutige Schöne sich ohne alle Beschäftigung hingestreckt hat, Confituren, Früchte, Gläser; vor ihr an der Wand lehnend eine Opiumpfeife. Die Venus des Harems hat ge¬ raucht! Ingres kann sagen, daß er Alles ganz treu nach der Sitte des Orients gemalt habe; gewiß, allein dadurch wird von dem Bilde nicht der beengende Druck hinwegge¬ nommen, daß es uns nur eine Sclavin zeigt, nicht eine freie Schönheit. Diese Odaliske ist nur wie ein schönes ein¬ gefangenes, eingesperrtes Menschenwild; wenn sie etwas thut, denn im Durchschnitt thut sie gar nichts, so ißt sie, so trinkt sie, so raucht sie. O wie geistreich, wie schön ist gegen die Opiumpfeife jene Flöte in der Hand von Philipps Geliebten! -- Das Reizende, als eine der nothwendigen Formen des Schönen, verbindet sich natürlich mit allen übrigen und entfaltet sich in sehr verschiedenen Graden, weshalb wir den Gebrauch des Wortes Reiz sehr weit aus¬ dehnen und auch das Niedliche und Spielende unbedenklich reizend nennen. Bei größerer Genauigkeit werden wir jedoch den Reiz nur da zugestehen, wo der sinnliche Factor des Schönen vorherrscht, gerade wie umgekehrt die Erhabenheit der Majestät wächst, je mehr sie in die Tiefen des Geistes, in die absolute Freiheit, zurückgeht, aus welchem Grunde wir den Frühling, die Jugend, das Weib reizender finden, als den Herbst, das Alter und den Mann. Der Reiz liebt, die sinnliche Energie zu steigern, das Bunte, vornämlich den
Ingres' berühmte Odaliske iſt ein ſolches Bild. Die Geſtalt iſt eben ſo unvergleichlich, als die Ausführung, aber die ganze Situation athmet nur Sinnlichkeit. Ein ge¬ ſchloſſenes, enges Gemach; ſchwerſeidene Polſter und Vor¬ hänge, kein Blick hinaus in die freie Natur; auf einem Teppich neben dem Lager, auf welchem die ſchlanküppige, ſammthäutige Schöne ſich ohne alle Beſchäftigung hingeſtreckt hat, Confituren, Früchte, Gläſer; vor ihr an der Wand lehnend eine Opiumpfeife. Die Venus des Harems hat ge¬ raucht! Ingres kann ſagen, daß er Alles ganz treu nach der Sitte des Orients gemalt habe; gewiß, allein dadurch wird von dem Bilde nicht der beengende Druck hinwegge¬ nommen, daß es uns nur eine Sclavin zeigt, nicht eine freie Schönheit. Dieſe Odaliske iſt nur wie ein ſchönes ein¬ gefangenes, eingeſperrtes Menſchenwild; wenn ſie etwas thut, denn im Durchſchnitt thut ſie gar nichts, ſo ißt ſie, ſo trinkt ſie, ſo raucht ſie. O wie geiſtreich, wie ſchön iſt gegen die Opiumpfeife jene Flöte in der Hand von Philipps Geliebten! — Das Reizende, als eine der nothwendigen Formen des Schönen, verbindet ſich natürlich mit allen übrigen und entfaltet ſich in ſehr verſchiedenen Graden, weshalb wir den Gebrauch des Wortes Reiz ſehr weit aus¬ dehnen und auch das Niedliche und Spielende unbedenklich reizend nennen. Bei größerer Genauigkeit werden wir jedoch den Reiz nur da zugeſtehen, wo der ſinnliche Factor des Schönen vorherrſcht, gerade wie umgekehrt die Erhabenheit der Majeſtät wächſt, je mehr ſie in die Tiefen des Geiſtes, in die abſolute Freiheit, zurückgeht, aus welchem Grunde wir den Frühling, die Jugend, das Weib reizender finden, als den Herbſt, das Alter und den Mann. Der Reiz liebt, die ſinnliche Energie zu ſteigern, das Bunte, vornämlich den
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Ingres' berühmte Odaliske iſt ein ſolches Bild. Die
Geſtalt iſt eben ſo unvergleichlich, als die Ausführung, aber
die ganze Situation athmet nur Sinnlichkeit. Ein ge¬
ſchloſſenes, enges Gemach; ſchwerſeidene Polſter und Vor¬
hänge, kein Blick hinaus in die freie Natur; auf einem
Teppich neben dem Lager, auf welchem die ſchlanküppige,
ſammthäutige Schöne ſich ohne alle Beſchäftigung hingeſtreckt
hat, Confituren, Früchte, Gläſer; vor ihr an der Wand
lehnend eine Opiumpfeife. Die Venus des Harems hat ge¬
raucht! Ingres kann ſagen, daß er Alles ganz treu nach
der Sitte des Orients gemalt habe; gewiß, allein dadurch
wird von dem Bilde nicht der beengende Druck hinwegge¬
nommen, daß es uns nur eine Sclavin zeigt, nicht eine
freie Schönheit. Dieſe Odaliske iſt nur wie ein ſchönes ein¬
gefangenes, eingeſperrtes Menſchenwild; wenn ſie etwas
thut, denn im Durchſchnitt thut ſie gar nichts, ſo ißt ſie,
ſo trinkt ſie, ſo raucht ſie. O wie geiſtreich, wie ſchön iſt
gegen die Opiumpfeife jene Flöte in der Hand von Philipps
Geliebten! — Das Reizende, als eine der nothwendigen
Formen des Schönen, verbindet ſich natürlich mit allen
übrigen und entfaltet ſich in ſehr verſchiedenen Graden,
weshalb wir den Gebrauch des Wortes Reiz ſehr weit aus¬
dehnen und auch das Niedliche und Spielende unbedenklich
reizend nennen. Bei größerer Genauigkeit werden wir jedoch
den Reiz nur da zugeſtehen, wo der ſinnliche Factor des
Schönen vorherrſcht, gerade wie umgekehrt die Erhabenheit
der Majeſtät wächſt, je mehr ſie in die Tiefen des Geiſtes,
in die abſolute Freiheit, zurückgeht, aus welchem Grunde
wir den Frühling, die Jugend, das Weib reizender finden,
als den Herbſt, das Alter und den Mann. Der Reiz liebt,
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/305>, abgerufen am 22.11.2024.
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