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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Menschen möglich sind. Der Typus desselben sollte freilich
seiner Idee nach die Schönheit der menschlichen Erscheinung
erwarten lassen, allein die empirische Realität, weil der Zufall
und die Willkür in ihr nothwendige Factoren ausmachen,
zeigt uns auch häßliche Gestalten und zwar nicht blos in der
Form vereinzelter Individuen, sondern in der erblichen Aus¬
breitung über größere Kreise. Doch sind solche Gestalten
nicht Gattungen in dem Sinn, wie es von Geburt häßliche
Thiere gibt, in deren Begriff schon die Häßlichkeit, das
Verzerrte und Widerspruchsvolle liegt. Gegen die Idee des
Menschen gehalten, bleiben sie Zufälligkeiten, die empirisch
nur relativ nothwendig waren. Sie können theils singulärer,
theils particulärer Art sein. Singulärer Art, wenn ein
menschlicher Organismus durch individuelle Krankheit, z. B.
Skropheln, Rückgratverkrümmung, Bruch u. dgl. verun¬
staltet wird; particulärer Art, wenn die Verunstaltung sich
dadurch erzeugt, daß der Organismus einer besondern Loca¬
lität sich anpassen muß. In diesem Fall der Adaption an
eine bestimmte Bodenform und an ein bestimmtes Klima
muß der Mensch dieselben Processe, wie die Pflanze und
das Thier, durchlaufen Die Verschiedenheit der tellurischen
Bedingungen drückt sich auch in der Verschiedenheit des
Habitus und der Physiognomie aus, zumal sie auch eine
Verschiedenheit der Lebensart hervorrufen. Der Bewohner
des Gebirgs und der der Ebene, der Waldjäger und der
Fischer, der Hirt und der Ackerbauer, der Polanwohner und
der Tropenländer, empfangen nothwendig einen andern an¬
thropologischen Charakter. Selbst der Cretinismus ist hieher
zu rechnen, da er an bestimmten Localitäten, namentlich an
gewissen von Kalkauflösungen geschwängerten Bergwassern zu
haften scheint. Der Cretin ist noch häßlicher als der Neger,

Menſchen möglich ſind. Der Typus deſſelben ſollte freilich
ſeiner Idee nach die Schönheit der menſchlichen Erſcheinung
erwarten laſſen, allein die empiriſche Realität, weil der Zufall
und die Willkür in ihr nothwendige Factoren ausmachen,
zeigt uns auch häßliche Geſtalten und zwar nicht blos in der
Form vereinzelter Individuen, ſondern in der erblichen Aus¬
breitung über größere Kreiſe. Doch ſind ſolche Geſtalten
nicht Gattungen in dem Sinn, wie es von Geburt häßliche
Thiere gibt, in deren Begriff ſchon die Häßlichkeit, das
Verzerrte und Widerſpruchsvolle liegt. Gegen die Idee des
Menſchen gehalten, bleiben ſie Zufälligkeiten, die empiriſch
nur relativ nothwendig waren. Sie können theils ſingulärer,
theils particulärer Art ſein. Singulärer Art, wenn ein
menſchlicher Organismus durch individuelle Krankheit, z. B.
Skropheln, Rückgratverkrümmung, Bruch u. dgl. verun¬
ſtaltet wird; particulärer Art, wenn die Verunſtaltung ſich
dadurch erzeugt, daß der Organismus einer beſondern Loca¬
lität ſich anpaſſen muß. In dieſem Fall der Adaption an
eine beſtimmte Bodenform und an ein beſtimmtes Klima
muß der Menſch dieſelben Proceſſe, wie die Pflanze und
das Thier, durchlaufen Die Verſchiedenheit der telluriſchen
Bedingungen drückt ſich auch in der Verſchiedenheit des
Habitus und der Phyſiognomie aus, zumal ſie auch eine
Verſchiedenheit der Lebensart hervorrufen. Der Bewohner
des Gebirgs und der der Ebene, der Waldjäger und der
Fiſcher, der Hirt und der Ackerbauer, der Polanwohner und
der Tropenländer, empfangen nothwendig einen andern an¬
thropologiſchen Charakter. Selbſt der Cretinismus iſt hieher
zu rechnen, da er an beſtimmten Localitäten, namentlich an
gewiſſen von Kalkauflöſungen geſchwängerten Bergwaſſern zu
haften ſcheint. Der Cretin iſt noch häßlicher als der Neger,

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[31/0053] Menſchen möglich ſind. Der Typus deſſelben ſollte freilich ſeiner Idee nach die Schönheit der menſchlichen Erſcheinung erwarten laſſen, allein die empiriſche Realität, weil der Zufall und die Willkür in ihr nothwendige Factoren ausmachen, zeigt uns auch häßliche Geſtalten und zwar nicht blos in der Form vereinzelter Individuen, ſondern in der erblichen Aus¬ breitung über größere Kreiſe. Doch ſind ſolche Geſtalten nicht Gattungen in dem Sinn, wie es von Geburt häßliche Thiere gibt, in deren Begriff ſchon die Häßlichkeit, das Verzerrte und Widerſpruchsvolle liegt. Gegen die Idee des Menſchen gehalten, bleiben ſie Zufälligkeiten, die empiriſch nur relativ nothwendig waren. Sie können theils ſingulärer, theils particulärer Art ſein. Singulärer Art, wenn ein menſchlicher Organismus durch individuelle Krankheit, z. B. Skropheln, Rückgratverkrümmung, Bruch u. dgl. verun¬ ſtaltet wird; particulärer Art, wenn die Verunſtaltung ſich dadurch erzeugt, daß der Organismus einer beſondern Loca¬ lität ſich anpaſſen muß. In dieſem Fall der Adaption an eine beſtimmte Bodenform und an ein beſtimmtes Klima muß der Menſch dieſelben Proceſſe, wie die Pflanze und das Thier, durchlaufen Die Verſchiedenheit der telluriſchen Bedingungen drückt ſich auch in der Verſchiedenheit des Habitus und der Phyſiognomie aus, zumal ſie auch eine Verſchiedenheit der Lebensart hervorrufen. Der Bewohner des Gebirgs und der der Ebene, der Waldjäger und der Fiſcher, der Hirt und der Ackerbauer, der Polanwohner und der Tropenländer, empfangen nothwendig einen andern an¬ thropologiſchen Charakter. Selbſt der Cretinismus iſt hieher zu rechnen, da er an beſtimmten Localitäten, namentlich an gewiſſen von Kalkauflöſungen geſchwängerten Bergwaſſern zu haften ſcheint. Der Cretin iſt noch häßlicher als der Neger,

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/53>, abgerufen am 23.11.2024.