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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Sechste Betr. Die große Seeligkeit
kündiget ist durch die, so euch das Evange-
lium verkündiget haben, durch den heiligen
Geist vom Himmel gesandt, welches auch
die Engel gelüster zu schauen.

Da Gott so bereitwillig ist den bußfertigen Sün-
dern Gnade zu erweisen, da die Vernunft
selbst bey erleuchteten Einsichten ihn für das lieb-
reichste, wohlthätigste Wesen erkennen muß, so ist
es manchen Weisen und Klugen der Welt sehr frem-
de und anstößig vorgekommen, daß die heil.
Schrift in so vielen Stellen versichert, der Sohn
Gottes habe in angenommener menschlicher Natur
die Strafen unserer Sünden, erdulten, und uns
Gnade bey Gott auswirken müßen. Wie? Sollte
denn Gott so zornig und unversöhnlich seyn, wie
ein Mensch, der nicht eher Beleidigungen vergiebt,
als bis er das Blut seines Feindes hat fließen se-
hen? Konnte er uns nicht ohne den Tod eines
Mittlers begnadigen? Erheben wir nicht seine
unendliche Gerechtigkeit auf Kosten seiner unendli-
chen Güte und Barmherzigkeit, wenn wir ihn als
ein Wesen vorstellen, welches gegen ohnmächtige
Geschöpfe, die doch sein Werk sind, von Zorn und
Rache entbrannt ist, und ihrer nicht eher verschont, als
bis er erst ihre Strafen auf einen Unschuldigen gelegt
hat, den er die ganze Strenge seiner Strafgerech-
tigkeit fühlen läßt? Sind dieß Begriffe von
Gott, welche vor dem Richterstuhle einer unpar-
theyischen Vernunft die Probe aushalten? Dieß
sind Einwürfe gegen die Lehre von Christi Versöh-
nungstode, die man unaufhörlich wiederholt. Und

frey-
Sechſte Betr. Die große Seeligkeit
kündiget iſt durch die, ſo euch das Evange-
lium verkündiget haben, durch den heiligen
Geiſt vom Himmel geſandt, welches auch
die Engel gelüſter zu ſchauen.

Da Gott ſo bereitwillig iſt den bußfertigen Sün-
dern Gnade zu erweiſen, da die Vernunft
ſelbſt bey erleuchteten Einſichten ihn für das lieb-
reichſte, wohlthätigſte Weſen erkennen muß, ſo iſt
es manchen Weiſen und Klugen der Welt ſehr frem-
de und anſtößig vorgekommen, daß die heil.
Schrift in ſo vielen Stellen verſichert, der Sohn
Gottes habe in angenommener menſchlicher Natur
die Strafen unſerer Sünden, erdulten, und uns
Gnade bey Gott auswirken müßen. Wie? Sollte
denn Gott ſo zornig und unverſöhnlich ſeyn, wie
ein Menſch, der nicht eher Beleidigungen vergiebt,
als bis er das Blut ſeines Feindes hat fließen ſe-
hen? Konnte er uns nicht ohne den Tod eines
Mittlers begnadigen? Erheben wir nicht ſeine
unendliche Gerechtigkeit auf Koſten ſeiner unendli-
chen Güte und Barmherzigkeit, wenn wir ihn als
ein Weſen vorſtellen, welches gegen ohnmächtige
Geſchöpfe, die doch ſein Werk ſind, von Zorn und
Rache entbrannt iſt, und ihrer nicht eher verſchont, als
bis er erſt ihre Strafen auf einen Unſchuldigen gelegt
hat, den er die ganze Strenge ſeiner Strafgerech-
tigkeit fühlen läßt? Sind dieß Begriffe von
Gott, welche vor dem Richterſtuhle einer unpar-
theyiſchen Vernunft die Probe aushalten? Dieß
ſind Einwürfe gegen die Lehre von Chriſti Verſöh-
nungstode, die man unaufhörlich wiederholt. Und

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[70/0082] Sechſte Betr. Die große Seeligkeit kündiget iſt durch die, ſo euch das Evange- lium verkündiget haben, durch den heiligen Geiſt vom Himmel geſandt, welches auch die Engel gelüſter zu ſchauen. Da Gott ſo bereitwillig iſt den bußfertigen Sün- dern Gnade zu erweiſen, da die Vernunft ſelbſt bey erleuchteten Einſichten ihn für das lieb- reichſte, wohlthätigſte Weſen erkennen muß, ſo iſt es manchen Weiſen und Klugen der Welt ſehr frem- de und anſtößig vorgekommen, daß die heil. Schrift in ſo vielen Stellen verſichert, der Sohn Gottes habe in angenommener menſchlicher Natur die Strafen unſerer Sünden, erdulten, und uns Gnade bey Gott auswirken müßen. Wie? Sollte denn Gott ſo zornig und unverſöhnlich ſeyn, wie ein Menſch, der nicht eher Beleidigungen vergiebt, als bis er das Blut ſeines Feindes hat fließen ſe- hen? Konnte er uns nicht ohne den Tod eines Mittlers begnadigen? Erheben wir nicht ſeine unendliche Gerechtigkeit auf Koſten ſeiner unendli- chen Güte und Barmherzigkeit, wenn wir ihn als ein Weſen vorſtellen, welches gegen ohnmächtige Geſchöpfe, die doch ſein Werk ſind, von Zorn und Rache entbrannt iſt, und ihrer nicht eher verſchont, als bis er erſt ihre Strafen auf einen Unſchuldigen gelegt hat, den er die ganze Strenge ſeiner Strafgerech- tigkeit fühlen läßt? Sind dieß Begriffe von Gott, welche vor dem Richterſtuhle einer unpar- theyiſchen Vernunft die Probe aushalten? Dieß ſind Einwürfe gegen die Lehre von Chriſti Verſöh- nungstode, die man unaufhörlich wiederholt. Und frey-

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/82>, abgerufen am 24.11.2024.