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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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eine Woche und der Baum steht anfänglich mit getödteten braunrothen
Nadeln und dann mit entnadelten wie krampfhaft verkrümmten Zweigen
und aufplatzender und sich ablösender Rinde vor uns. Er ist unwider-
ruflich todt. Es ist dies genau dieselbe Wirkung wie durch eine ring-
förmige Entrindung (S. 172), welche unmittelbar über der Wurzel an-
gebracht, den ganzen Baum tödtet, weil die Ernährerin Wurzel mit stirbt,
da auch sie nur durch den von oben kommenden Bildungssaft ihre Neu-
bildungen macht.

Der Blätterverlust beraubt zwar den Baum der wichtigsten Lebens-
gehülfen, da sie die assimilirenden Organe sind; allein wir wissen schon,
daß sie sich aus den Achselknospen und durch Auferweckung schlafender
Knospen meist wieder ersetzen können. Nur Tannen, Lärchen und Fichten,
weil sie keine schlafenden Knospen haben, und die End- und Achsel-
knospen sich nur im folgenden Jahre entfalten zu können scheinen, über-
stehen eine vollständige Entlaubung niemals, da bis dahin der Nadelverlust
bereits tödtlich gewirkt hat. Die große Kiefernraupe, Gastropacha Pini,
die die Nadeln bis auf den Trieb herunter abweidet, tödtet darum die
Kiefer ebenfalls, weil sie die kleine ruhende Knospe mit beseitigt, welche
im Grunde der Nadelscheide als kleines Wärzchen zwischen den Nadeln
liegt. Weniger nachtheilig ist daher der Fraß anderer Kiefernfeinde,
welche ein Stümpfchen der Nadel stehen lassen, aus welchem die ruhende
Knospe wenigstens an den obersten Enden der Triebe hervortreiben kann.

Am Schlusse dieses langen und wichtigen Abschnittes über das Leben
des Baumes spitzt sich unsere Betrachtung in der gewonnenen Ueber-
zeugung zu, daß eine bestimmte Lebensdauer für die Bäume nicht
gesetzt ist, wie dies auch Decandolle in dem für unsern 3. Abschnitt auf
S. 12 entlehnten Motto ausspricht. Innere und äußere Bedingungen
gestatten hier einen außerordentlich weiten Spielraum. Ja durch die
Ausschlagsfähigkeit und durch die Theilbarkeit des Sammelwesens, wie
man gegenüber dem Begriff Individuum den Baum nennen könnte, kann
man das Leben des Baumes in beschränkterem Sinne gewissermaaßen
verewigen. Ein auf die Wurzel gestellter Baum (S. 196), dessen
Stock alsdann von nachfolgenden Förstergenerationen mit besonderer
Fürsorge gepflegt wird, kann vielleicht viele Jahrhunderte lang lebendig
bleiben.

eine Woche und der Baum ſteht anfänglich mit getödteten braunrothen
Nadeln und dann mit entnadelten wie krampfhaft verkrümmten Zweigen
und aufplatzender und ſich ablöſender Rinde vor uns. Er iſt unwider-
ruflich todt. Es iſt dies genau dieſelbe Wirkung wie durch eine ring-
förmige Entrindung (S. 172), welche unmittelbar über der Wurzel an-
gebracht, den ganzen Baum tödtet, weil die Ernährerin Wurzel mit ſtirbt,
da auch ſie nur durch den von oben kommenden Bildungsſaft ihre Neu-
bildungen macht.

Der Blätterverluſt beraubt zwar den Baum der wichtigſten Lebens-
gehülfen, da ſie die aſſimilirenden Organe ſind; allein wir wiſſen ſchon,
daß ſie ſich aus den Achſelknospen und durch Auferweckung ſchlafender
Knospen meiſt wieder erſetzen können. Nur Tannen, Lärchen und Fichten,
weil ſie keine ſchlafenden Knospen haben, und die End- und Achſel-
knospen ſich nur im folgenden Jahre entfalten zu können ſcheinen, über-
ſtehen eine vollſtändige Entlaubung niemals, da bis dahin der Nadelverluſt
bereits tödtlich gewirkt hat. Die große Kiefernraupe, Gastropacha Pini,
die die Nadeln bis auf den Trieb herunter abweidet, tödtet darum die
Kiefer ebenfalls, weil ſie die kleine ruhende Knospe mit beſeitigt, welche
im Grunde der Nadelſcheide als kleines Wärzchen zwiſchen den Nadeln
liegt. Weniger nachtheilig iſt daher der Fraß anderer Kiefernfeinde,
welche ein Stümpfchen der Nadel ſtehen laſſen, aus welchem die ruhende
Knospe wenigſtens an den oberſten Enden der Triebe hervortreiben kann.

Am Schluſſe dieſes langen und wichtigen Abſchnittes über das Leben
des Baumes ſpitzt ſich unſere Betrachtung in der gewonnenen Ueber-
zeugung zu, daß eine beſtimmte Lebensdauer für die Bäume nicht
geſetzt iſt, wie dies auch Decandolle in dem für unſern 3. Abſchnitt auf
S. 12 entlehnten Motto ausſpricht. Innere und äußere Bedingungen
geſtatten hier einen außerordentlich weiten Spielraum. Ja durch die
Ausſchlagsfähigkeit und durch die Theilbarkeit des Sammelweſens, wie
man gegenüber dem Begriff Individuum den Baum nennen könnte, kann
man das Leben des Baumes in beſchränkterem Sinne gewiſſermaaßen
verewigen. Ein auf die Wurzel geſtellter Baum (S. 196), deſſen
Stock alsdann von nachfolgenden Förſtergenerationen mit beſonderer
Fürſorge gepflegt wird, kann vielleicht viele Jahrhunderte lang lebendig
bleiben.

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[202/0226] eine Woche und der Baum ſteht anfänglich mit getödteten braunrothen Nadeln und dann mit entnadelten wie krampfhaft verkrümmten Zweigen und aufplatzender und ſich ablöſender Rinde vor uns. Er iſt unwider- ruflich todt. Es iſt dies genau dieſelbe Wirkung wie durch eine ring- förmige Entrindung (S. 172), welche unmittelbar über der Wurzel an- gebracht, den ganzen Baum tödtet, weil die Ernährerin Wurzel mit ſtirbt, da auch ſie nur durch den von oben kommenden Bildungsſaft ihre Neu- bildungen macht. Der Blätterverluſt beraubt zwar den Baum der wichtigſten Lebens- gehülfen, da ſie die aſſimilirenden Organe ſind; allein wir wiſſen ſchon, daß ſie ſich aus den Achſelknospen und durch Auferweckung ſchlafender Knospen meiſt wieder erſetzen können. Nur Tannen, Lärchen und Fichten, weil ſie keine ſchlafenden Knospen haben, und die End- und Achſel- knospen ſich nur im folgenden Jahre entfalten zu können ſcheinen, über- ſtehen eine vollſtändige Entlaubung niemals, da bis dahin der Nadelverluſt bereits tödtlich gewirkt hat. Die große Kiefernraupe, Gastropacha Pini, die die Nadeln bis auf den Trieb herunter abweidet, tödtet darum die Kiefer ebenfalls, weil ſie die kleine ruhende Knospe mit beſeitigt, welche im Grunde der Nadelſcheide als kleines Wärzchen zwiſchen den Nadeln liegt. Weniger nachtheilig iſt daher der Fraß anderer Kiefernfeinde, welche ein Stümpfchen der Nadel ſtehen laſſen, aus welchem die ruhende Knospe wenigſtens an den oberſten Enden der Triebe hervortreiben kann. Am Schluſſe dieſes langen und wichtigen Abſchnittes über das Leben des Baumes ſpitzt ſich unſere Betrachtung in der gewonnenen Ueber- zeugung zu, daß eine beſtimmte Lebensdauer für die Bäume nicht geſetzt iſt, wie dies auch Decandolle in dem für unſern 3. Abſchnitt auf S. 12 entlehnten Motto ausſpricht. Innere und äußere Bedingungen geſtatten hier einen außerordentlich weiten Spielraum. Ja durch die Ausſchlagsfähigkeit und durch die Theilbarkeit des Sammelweſens, wie man gegenüber dem Begriff Individuum den Baum nennen könnte, kann man das Leben des Baumes in beſchränkterem Sinne gewiſſermaaßen verewigen. Ein auf die Wurzel geſtellter Baum (S. 196), deſſen Stock alsdann von nachfolgenden Förſtergenerationen mit beſonderer Fürſorge gepflegt wird, kann vielleicht viele Jahrhunderte lang lebendig bleiben.

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/226>, abgerufen am 22.12.2024.