Rinde bis auf das Holz abschälen, so muß der Baum sterben, weil selbst die Wurzel sich nicht selbst ernähren kann, sondern der Blattgebilde bedarf, welche ihr den Stoff läutern und zuführen müssen, durch den sie wächst. Wenn wir einem Zweige mehrere Jahre hintereinander alle Blätter, so wie sie sich ausgebildet haben, abschneiden, so stirbt er, weil er nicht von den benachbarten Zweigen ernährt werden kann.
So sehen wir denn in Wirklichkeit ein Gegenseitigkeitsverhältniß zwischen den Stengelgebilden und den Blattgebilden bestehen, ein innigeres als das des Tragens und des Getragenseins. Der größte Baum ist ein tausendfach gegliedertes Ganzes, in dessen einzelnen Theilen eine ununter- brochene Zusammengehörigkeit, eine Kontinuität, besteht, die wir für irgend einen seiner Theile nicht unterbrechen dürfen, ohne das Absterben dieses Theiles herbeizuführen. Das erhaltende Wesen dieser Kontinuität ist der Saftstrom, sowohl des Frühjahrs- wie des Bildungssaftes.
Wenn wir dieses Verhältniß mit dem, was wir alle über das jähr- liche Baumleben kennen, zusammenhalten, so können wir in Wahrheit sagen, daß sich der Baum alljährlich mit einer neuen Blatt- und Blüthen- welt bevölkert, welche im Herbste abstirbt, abfällt und in den Knospen die Keime zu einer neuen für das folgende Jahr hinterläßt.
Wir müssen uns aber an noch einige andere Erscheinungen im Baum- leben erinnern.
Wenn wir eine Weidenruthe in der Knospenruhe abschneiden und in den Erdboden stecken, so wissen wir, daß dieser "Steckling" alsbald zu einem Bäumchen erwächst; er treibt unten an der Schnittstelle Wurzeln, und die Knospen entfalten sich ebenso gut, als wenn der Zweig am Baume geblieben wäre. Es geht daraus hervor, daß es hier der Wurzel als nahrungaufnehmenden Organes gar nicht bedurfte; sondern daß das an der Schnittstelle aus dem Boden eindringende Wasser ebenfalls empor und zu den Knospen drang, diese weckte und daß dann der von den entfalteten Blättern zubereitete Bildungssaft abwärts gestiegen, neue Wurzeln an einer Stelle bildet, wo sonst gar keine Wurzeln zu sein pflegen.
Der erste beste hohle Baum muß uns jetzt daran mahnen, daß der Holzkörper eine untergeordnete Bedeutung für das Baumleben hat. Wir wissen, daß ein Baum, der eben noch in anscheinend ungestörter Gesundheit
Rinde bis auf das Holz abſchälen, ſo muß der Baum ſterben, weil ſelbſt die Wurzel ſich nicht ſelbſt ernähren kann, ſondern der Blattgebilde bedarf, welche ihr den Stoff läutern und zuführen müſſen, durch den ſie wächſt. Wenn wir einem Zweige mehrere Jahre hintereinander alle Blätter, ſo wie ſie ſich ausgebildet haben, abſchneiden, ſo ſtirbt er, weil er nicht von den benachbarten Zweigen ernährt werden kann.
So ſehen wir denn in Wirklichkeit ein Gegenſeitigkeitsverhältniß zwiſchen den Stengelgebilden und den Blattgebilden beſtehen, ein innigeres als das des Tragens und des Getragenſeins. Der größte Baum iſt ein tauſendfach gegliedertes Ganzes, in deſſen einzelnen Theilen eine ununter- brochene Zuſammengehörigkeit, eine Kontinuität, beſteht, die wir für irgend einen ſeiner Theile nicht unterbrechen dürfen, ohne das Abſterben dieſes Theiles herbeizuführen. Das erhaltende Weſen dieſer Kontinuität iſt der Saftſtrom, ſowohl des Frühjahrs- wie des Bildungsſaftes.
Wenn wir dieſes Verhältniß mit dem, was wir alle über das jähr- liche Baumleben kennen, zuſammenhalten, ſo können wir in Wahrheit ſagen, daß ſich der Baum alljährlich mit einer neuen Blatt- und Blüthen- welt bevölkert, welche im Herbſte abſtirbt, abfällt und in den Knospen die Keime zu einer neuen für das folgende Jahr hinterläßt.
Wir müſſen uns aber an noch einige andere Erſcheinungen im Baum- leben erinnern.
Wenn wir eine Weidenruthe in der Knospenruhe abſchneiden und in den Erdboden ſtecken, ſo wiſſen wir, daß dieſer „Steckling“ alsbald zu einem Bäumchen erwächſt; er treibt unten an der Schnittſtelle Wurzeln, und die Knospen entfalten ſich ebenſo gut, als wenn der Zweig am Baume geblieben wäre. Es geht daraus hervor, daß es hier der Wurzel als nahrungaufnehmenden Organes gar nicht bedurfte; ſondern daß das an der Schnittſtelle aus dem Boden eindringende Waſſer ebenfalls empor und zu den Knospen drang, dieſe weckte und daß dann der von den entfalteten Blättern zubereitete Bildungsſaft abwärts geſtiegen, neue Wurzeln an einer Stelle bildet, wo ſonſt gar keine Wurzeln zu ſein pflegen.
Der erſte beſte hohle Baum muß uns jetzt daran mahnen, daß der Holzkörper eine untergeordnete Bedeutung für das Baumleben hat. Wir wiſſen, daß ein Baum, der eben noch in anſcheinend ungeſtörter Geſundheit
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[16/0040]
Rinde bis auf das Holz abſchälen, ſo muß der Baum ſterben, weil ſelbſt
die Wurzel ſich nicht ſelbſt ernähren kann, ſondern der Blattgebilde bedarf,
welche ihr den Stoff läutern und zuführen müſſen, durch den ſie wächſt.
Wenn wir einem Zweige mehrere Jahre hintereinander alle Blätter, ſo
wie ſie ſich ausgebildet haben, abſchneiden, ſo ſtirbt er, weil er nicht von
den benachbarten Zweigen ernährt werden kann.
So ſehen wir denn in Wirklichkeit ein Gegenſeitigkeitsverhältniß
zwiſchen den Stengelgebilden und den Blattgebilden beſtehen, ein innigeres
als das des Tragens und des Getragenſeins. Der größte Baum iſt ein
tauſendfach gegliedertes Ganzes, in deſſen einzelnen Theilen eine ununter-
brochene Zuſammengehörigkeit, eine Kontinuität, beſteht, die wir für irgend
einen ſeiner Theile nicht unterbrechen dürfen, ohne das Abſterben dieſes
Theiles herbeizuführen. Das erhaltende Weſen dieſer Kontinuität iſt der
Saftſtrom, ſowohl des Frühjahrs- wie des Bildungsſaftes.
Wenn wir dieſes Verhältniß mit dem, was wir alle über das jähr-
liche Baumleben kennen, zuſammenhalten, ſo können wir in Wahrheit
ſagen, daß ſich der Baum alljährlich mit einer neuen Blatt- und Blüthen-
welt bevölkert, welche im Herbſte abſtirbt, abfällt und in den Knospen die
Keime zu einer neuen für das folgende Jahr hinterläßt.
Wir müſſen uns aber an noch einige andere Erſcheinungen im Baum-
leben erinnern.
Wenn wir eine Weidenruthe in der Knospenruhe abſchneiden und in
den Erdboden ſtecken, ſo wiſſen wir, daß dieſer „Steckling“ alsbald zu
einem Bäumchen erwächſt; er treibt unten an der Schnittſtelle Wurzeln,
und die Knospen entfalten ſich ebenſo gut, als wenn der Zweig am
Baume geblieben wäre. Es geht daraus hervor, daß es hier der Wurzel
als nahrungaufnehmenden Organes gar nicht bedurfte; ſondern daß das
an der Schnittſtelle aus dem Boden eindringende Waſſer ebenfalls empor
und zu den Knospen drang, dieſe weckte und daß dann der von den
entfalteten Blättern zubereitete Bildungsſaft abwärts geſtiegen, neue
Wurzeln an einer Stelle bildet, wo ſonſt gar keine Wurzeln zu ſein
pflegen.
Der erſte beſte hohle Baum muß uns jetzt daran mahnen, daß der
Holzkörper eine untergeordnete Bedeutung für das Baumleben hat. Wir
wiſſen, daß ein Baum, der eben noch in anſcheinend ungeſtörter Geſundheit
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/40>, abgerufen am 22.12.2024.
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