Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B.
die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen
übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein
können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die
Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer
Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt
wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen
hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach
einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be-
festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung
übertragen.

Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen-
schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen
zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und
von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu-
führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere.
Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die
vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er-
worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht
schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im
späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist.

Dass aber im Embryo auftretende neue Variationen sehr
häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge-
stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn-
gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio-
nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs1)
und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich
nicht vererben.

Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung
der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern-

1) H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3.
3*

B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.
diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B.
die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen
übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein
können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die
Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer
Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt
wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen
hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach
einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be-
festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung
übertragen.

Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen-
schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen
zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und
von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu-
führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere.
Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die
vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er-
worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht
schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im
späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist.

Dass aber im Embryo auftretende neue Variationen sehr
häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge-
stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn-
gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio-
nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs1)
und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich
nicht vererben.

Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung
der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern-

1) H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3.
3*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0049" n="35"/><fw place="top" type="header">B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung.</fw><lb/>
diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B.<lb/>
die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen<lb/>
übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein<lb/>
können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die<lb/>
Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer<lb/>
Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt<lb/>
wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen<lb/>
hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach<lb/>
einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be-<lb/>
festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung<lb/>
übertragen.</p><lb/>
            <p>Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen-<lb/>
schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen<lb/>
zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und<lb/>
von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu-<lb/>
führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere.<lb/>
Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die<lb/>
vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er-<lb/>
worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht<lb/>
schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im<lb/>
späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist.</p><lb/>
            <p>Dass aber <hi rendition="#g">im Embryo</hi> auftretende neue Variationen sehr<lb/>
häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge-<lb/>
stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn-<lb/>
gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio-<lb/>
nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs<note place="foot" n="1)">H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3.</note><lb/>
und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich<lb/>
nicht vererben.</p><lb/>
            <p>Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung<lb/>
der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">3*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0049] B. Erblichkeit der Wirkungen der functionellen Anpassung. diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B. die erworbenen Eigenschaften sich ganz auf die Nachkommen übertrügen, so würde der Fortschritt ein ungemein rascher sein können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin, dass nur ein geringer Bruchtheil der Grösse der erworbenen Eigenschaften vererbt wird. Ja es scheint, als wenn überhaupt erst Generationen hindurch andauernde Wirkung der functionellen Anpassung nach einer Richtung hin nöthig sei, um die Eigenschaften so zu be- festigen, dass sie sich auf die Nachkommen durch Vererbung übertragen. Bei der Feststellung der Vererbung erworbener Eigen- schaften handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, welche fast nie sicher zu treffen ist; und von diesen Möglichkeiten scheint fast immer die zuletzt anzu- führende, für die Entwicklung ungünstige, die wahrscheinlichere. Es handelt sich darum, zu entscheiden, ob in der That die vererbte günstige Eigenschaft vom Vater vollkommen neu er- worben und dann vererbt worden ist, oder ob sie in ihm nicht schon durch embryonale Variation potentia aufgetreten und im späteren Leben von ihm eigentlich blos entwickelt worden ist. Dass aber im Embryo auftretende neue Variationen sehr häufig und in hohem Grade vererbt werden, ist sicher festge- stellt und kann von Niemandem mehr bezweifelt werden, wenn- gleich auch Fälle vorkommen, in denen embryonale Variatio- nen, wie z. B. der halbseitige, stets angeborene Riesenwuchs 1) und viele Geschwülste, deren Keime angeboren werden, sich nicht vererben. Auf diesen Einwand kann man sich stützen zur Erklärung der hochgradigen, von Generation zu Generation sich steigern- 1) H. Fischer in: Deutsches Archiv f. Chirurgie. Bd. 12. p. 3. 3*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/49
Zitationshilfe: Roux, Wilhelm: Der Kampf der Teile des Organismus. Leipzig, 1881, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roux_kampf_1881/49>, abgerufen am 03.12.2024.