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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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ihr an, daß er todt seyn müsse. Dennoch war es
mir lieb, daß sie dies nicht laut sagte. Noch
wollt' ich nicht gern, daß Jda einen Todten sehen
sollte; am wenigsten den alten Paul, den sie so
lieb gehabt, und -- dessen Anblick in seiner tie-
fen schmutzigen Armuth den Tod noch unästheti-
scher macht, als er ohnedies schon ist. So ein
Todter muß der erste nicht seyn, den die Kleine
sieht. Jch wußte also dem Mädchen für die verschlei-
erte Wahrheit Dank. So bald der arme Mensch
begraben seyn wird, soll Jda wissen, wo er hin-
gereis't ist. Doch werde ich über diese große Reise,
die uns allen bevorsteht, noch wenig mit ihr re-
den. Dazu muß ich noch eine andere Zeit ab-
warten, wo sie die Erscheinung der sichtbaren
Welt und ibre unendlichen Umwandelungen schon
von einem höheren Standpunkt überschauet, und
des Unsichtbaren Unendlichen schon tief in sich
selber gewiß worden. Bis dahin sey es an der
einfachen Erzählung, der Mensch ist gestorben,
und sein unbrauchbar gewordener Körper begraben,
genug. Freilich wird sie forschen und fragen, aber
sie ist es auch schon gewohnt, die Antwort auf

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ihr an, daß er todt ſeyn müſſe. Dennoch war es
mir lieb, daß ſie dies nicht laut ſagte. Noch
wollt’ ich nicht gern, daß Jda einen Todten ſehen
ſollte; am wenigſten den alten Paul, den ſie ſo
lieb gehabt, und — deſſen Anblick in ſeiner tie-
fen ſchmutzigen Armuth den Tod noch unäſtheti-
ſcher macht, als er ohnedies ſchon iſt. So ein
Todter muß der erſte nicht ſeyn, den die Kleine
ſieht. Jch wußte alſo dem Mädchen für die verſchlei-
erte Wahrheit Dank. So bald der arme Menſch
begraben ſeyn wird, ſoll Jda wiſſen, wo er hin-
gereiſ’t iſt. Doch werde ich über dieſe große Reiſe,
die uns allen bevorſteht, noch wenig mit ihr re-
den. Dazu muß ich noch eine andere Zeit ab-
warten, wo ſie die Erſcheinung der ſichtbaren
Welt und ibre unendlichen Umwandelungen ſchon
von einem höheren Standpunkt überſchauet, und
des Unſichtbaren Unendlichen ſchon tief in ſich
ſelber gewiß worden. Bis dahin ſey es an der
einfachen Erzählung, der Menſch iſt geſtorben,
und ſein unbrauchbar gewordener Körper begraben,
genug. Freilich wird ſie forſchen und fragen, aber
ſie iſt es auch ſchon gewohnt, die Antwort auf

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[273/0287] ihr an, daß er todt ſeyn müſſe. Dennoch war es mir lieb, daß ſie dies nicht laut ſagte. Noch wollt’ ich nicht gern, daß Jda einen Todten ſehen ſollte; am wenigſten den alten Paul, den ſie ſo lieb gehabt, und — deſſen Anblick in ſeiner tie- fen ſchmutzigen Armuth den Tod noch unäſtheti- ſcher macht, als er ohnedies ſchon iſt. So ein Todter muß der erſte nicht ſeyn, den die Kleine ſieht. Jch wußte alſo dem Mädchen für die verſchlei- erte Wahrheit Dank. So bald der arme Menſch begraben ſeyn wird, ſoll Jda wiſſen, wo er hin- gereiſ’t iſt. Doch werde ich über dieſe große Reiſe, die uns allen bevorſteht, noch wenig mit ihr re- den. Dazu muß ich noch eine andere Zeit ab- warten, wo ſie die Erſcheinung der ſichtbaren Welt und ibre unendlichen Umwandelungen ſchon von einem höheren Standpunkt überſchauet, und des Unſichtbaren Unendlichen ſchon tief in ſich ſelber gewiß worden. Bis dahin ſey es an der einfachen Erzählung, der Menſch iſt geſtorben, und ſein unbrauchbar gewordener Körper begraben, genug. Freilich wird ſie forſchen und fragen, aber ſie iſt es auch ſchon gewohnt, die Antwort auf (35)

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/287>, abgerufen am 02.06.2024.