Noch habe ich außer einer alten Fuhrmanns- frau -- die zwischen jeder Zeile von ihrem Mor- genliede: "Wach auf, mein Herz, und singe" immer einige heftige Apostrophen an ihre Pferde richtete, wenn sie sich beim Striegeln oder An- spannen nicht schicken wollten, noch habe ich sonst niemand unmittelbar nach dem Gesange zür- nen gesehen. Wer in einem schönen Gemüthe auch den gerechtesten Unwillen entwaffnen wollte, dürft' es nur versuchen, die Melodie von Kirnberger's: "Schwach und sündlich ist der Mensch geboren" oder Graun's Arie: "Jhr weichgeschaff'nen See- len", oder den schönen Choral: "Herzlich lieb hab' ich dich, o Herr!" anzustimmen; ich stehe für das Gelingen. Und kein Jnstrument (selbst die auf- lösende Harmonika nicht) darf sich mit der Men- schenstimme messen, wenn sie recht rein und sanft getragen ist. O singe, singe viel, wenn Du Jda bei Dir hast. Besonders im Garten. Es wird ja bald wieder Frühling! Dann leb' und wohne mit ihr unter Blumen und Vögeln, die sie so gern hat, und singe ihr häufig vor. Bis dahin beschäftige sie und laß sie sich selbst beschäf-
Noch habe ich außer einer alten Fuhrmanns- frau — die zwiſchen jeder Zeile von ihrem Mor- genliede: „Wach auf, mein Herz, und ſinge‟ immer einige heftige Apoſtrophen an ihre Pferde richtete, wenn ſie ſich beim Striegeln oder An- ſpannen nicht ſchicken wollten, noch habe ich ſonſt niemand unmittelbar nach dem Geſange zür- nen geſehen. Wer in einem ſchönen Gemüthe auch den gerechteſten Unwillen entwaffnen wollte, dürft’ es nur verſuchen, die Melodie von Kirnberger’s: „Schwach und ſündlich iſt der Menſch geboren‟ oder Graun’s Arie: „Jhr weichgeſchaff’nen See- len‟, oder den ſchönen Choral: „Herzlich lieb hab’ ich dich, o Herr!‟ anzuſtimmen; ich ſtehe für das Gelingen. Und kein Jnſtrument (ſelbſt die auf- löſende Harmonika nicht) darf ſich mit der Men- ſchenſtimme meſſen, wenn ſie recht rein und ſanft getragen iſt. O ſinge, ſinge viel, wenn Du Jda bei Dir haſt. Beſonders im Garten. Es wird ja bald wieder Frühling! Dann leb’ und wohne mit ihr unter Blumen und Vögeln, die ſie ſo gern hat, und ſinge ihr häufig vor. Bis dahin beſchäftige ſie und laß ſie ſich ſelbſt beſchäf-
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Noch habe ich außer einer alten Fuhrmanns-
frau — die zwiſchen jeder Zeile von ihrem Mor-
genliede: „Wach auf, mein Herz, und ſinge‟
immer einige heftige Apoſtrophen an ihre Pferde
richtete, wenn ſie ſich beim Striegeln oder An-
ſpannen nicht ſchicken wollten, noch habe ich
ſonſt niemand unmittelbar nach dem Geſange zür-
nen geſehen. Wer in einem ſchönen Gemüthe auch
den gerechteſten Unwillen entwaffnen wollte, dürft’
es nur verſuchen, die Melodie von Kirnberger’s:
„Schwach und ſündlich iſt der Menſch geboren‟
oder Graun’s Arie: „Jhr weichgeſchaff’nen See-
len‟, oder den ſchönen Choral: „Herzlich lieb hab’
ich dich, o Herr!‟ anzuſtimmen; ich ſtehe für das
Gelingen. Und kein Jnſtrument (ſelbſt die auf-
löſende Harmonika nicht) darf ſich mit der Men-
ſchenſtimme meſſen, wenn ſie recht rein und ſanft
getragen iſt. O ſinge, ſinge viel, wenn Du
Jda bei Dir haſt. Beſonders im Garten. Es
wird ja bald wieder Frühling! Dann leb’ und
wohne mit ihr unter Blumen und Vögeln, die
ſie ſo gern hat, und ſinge ihr häufig vor. Bis
dahin beſchäftige ſie und laß ſie ſich ſelbſt beſchäf-
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/51>, abgerufen am 21.11.2024.
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