nichts mehr rechten Theil nimmt, freut sich auf den Abend, und kann ihn nicht erwarten.
Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren Ton genommen. Sie schwebt um den Bruder, wie eine dienende Hebe um den Göttersohn. Clär- chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein wenig schüchtern zurück, so vertraut sie auch mit dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit ist zwischen der Schwester und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der letztern davon gehört, scheint er sich nicht bewußt zu seyn. -- Hertha stellt sich, wo sie nur kann, mit der geflissensten Aufmerksamkeit ihm entgegen. Bald bringt sie ihm Blumen; bald will sie ihm das eingeschenkte Glas bringen; bald ihm Licht holen, wenn er siegeln will; kurz, sie lauert auf jede Gelegenheit, wo sie der Jda ein Dienstchen wegstehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle Gemüther zu größerer Milde gestimmt: ich fürch- te, Jda's Geduld käme durch Hertha auf eine zu harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr. Er nennt sie die Geiß, oder auch den Rehbock,
nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf den Abend, und kann ihn nicht erwarten.
Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder, wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär- chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt zu ſeyn. — Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann, mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen. Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch- te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr. Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0126"n="118"/>
nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf<lb/>
den Abend, und kann ihn nicht erwarten.</p><lb/><p>Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren<lb/>
Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder,<lb/>
wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär-<lb/>
chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein<lb/>
wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit<lb/>
dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine<lb/>
ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter<lb/>
und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der<lb/>
letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt<lb/>
zu ſeyn. — Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann,<lb/>
mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen.<lb/>
Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm<lb/>
das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht<lb/>
holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf<lb/>
jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen<lb/>
wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle<lb/>
Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch-<lb/>
te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu<lb/>
harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr.<lb/>
Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[118/0126]
nichts mehr rechten Theil nimmt, freut ſich auf
den Abend, und kann ihn nicht erwarten.
Mit Jda hat Woldemar einen noch zarteren
Ton genommen. Sie ſchwebt um den Bruder,
wie eine dienende Hebe um den Götterſohn. Clär-
chen und Mathilde treten vor dem Jüngling ein
wenig ſchüchtern zurück, ſo vertraut ſie auch mit
dem Knaben waren. Er merkt das nicht. Seine
ganze Aufmerkſamkeit iſt zwiſchen der Schweſter
und der traurenden Betty getheilt. Wie viel der
letztern davon gehört, ſcheint er ſich nicht bewußt
zu ſeyn. — Hertha ſtellt ſich, wo ſie nur kann,
mit der gefliſſenſten Aufmerkſamkeit ihm entgegen.
Bald bringt ſie ihm Blumen; bald will ſie ihm
das eingeſchenkte Glas bringen; bald ihm Licht
holen, wenn er ſiegeln will; kurz, ſie lauert auf
jede Gelegenheit, wo ſie der Jda ein Dienſtchen
wegſtehlen kann. Hätte der Schmerz nicht alle
Gemüther zu größerer Milde geſtimmt: ich fürch-
te, Jda’s Geduld käme durch Hertha auf eine zu
harte Probe. Woldemar nimmt ihrer wenig wahr.
Er nennt ſie die Geiß, oder auch den Rehbock,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/126>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.