gesunde Natur plötzlich in ihr Gegentheil verwan- delte, so müßte der Anblick uns fürchterlich ergrei- fen -- ohngefähr so als wenn wir aus dem läng- sten Sommertage, der mit tausend tausend Herr- lichkeiten geschmückt uns anlachte, mit einemmal in einen naßkalten stürmenden Dezembertag ver- setzt würden, dessen 7 armselige Stunden uns vom düstern Himmel noch um 2 verkürzt würden. Ge- duldig und fast ohne es gewahr zu werden, gehen oder schleichen wir aus einem Außersten ins andere, wenn wir stufenweise hineingeführt werden. Es ist erstaunlich, welche Gewöhnbarkeit in der mora- lischen wie in der physischen Menschennatur liegt, und was allmählige Gewöhnung über uns vermag. So, meine Freundin, wurden Sie der ungünstigen Veränderung ihrer Kinder nicht gewahr, weil sie so allmählig kam, und durch das, was sie nach und nach wurden, das Bild von dem was sie waren, beinahe gänzlich in Jhnen ausgelöscht ist. Jch, die ich sie seit 7 Jahren nicht sah, und jenes Bild noch rein in mir trage, sehe den unholden Kontrast mit Schmerz; denn er ist groß. Jhre Kinder ge- hörten zu den lieblichsten die ich je sah. Was
geſunde Natur plötzlich in ihr Gegentheil verwan- delte, ſo müßte der Anblick uns fürchterlich ergrei- fen — ohngefähr ſo als wenn wir aus dem läng- ſten Sommertage, der mit tauſend tauſend Herr- lichkeiten geſchmückt uns anlachte, mit einemmal in einen naßkalten ſtürmenden Dezembertag ver- ſetzt würden, deſſen 7 armſelige Stunden uns vom düſtern Himmel noch um 2 verkürzt würden. Ge- duldig und faſt ohne es gewahr zu werden, gehen oder ſchleichen wir aus einem Außerſten ins andere, wenn wir ſtufenweiſe hineingeführt werden. Es iſt erſtaunlich, welche Gewöhnbarkeit in der mora- liſchen wie in der phyſiſchen Menſchennatur liegt, und was allmählige Gewöhnung über uns vermag. So, meine Freundin, wurden Sie der ungünſtigen Veränderung ihrer Kinder nicht gewahr, weil ſie ſo allmählig kam, und durch das, was ſie nach und nach wurden, das Bild von dem was ſie waren, beinahe gänzlich in Jhnen ausgelöſcht iſt. Jch, die ich ſie ſeit 7 Jahren nicht ſah, und jenes Bild noch rein in mir trage, ſehe den unholden Kontraſt mit Schmerz; denn er iſt groß. Jhre Kinder ge- hörten zu den lieblichſten die ich je ſah. Was
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0149"n="141"/>
geſunde Natur plötzlich in ihr Gegentheil verwan-<lb/>
delte, ſo müßte der Anblick uns fürchterlich ergrei-<lb/>
fen — ohngefähr ſo als wenn wir aus dem läng-<lb/>ſten Sommertage, der mit tauſend tauſend Herr-<lb/>
lichkeiten geſchmückt uns anlachte, mit einemmal<lb/>
in einen naßkalten ſtürmenden Dezembertag ver-<lb/>ſetzt würden, deſſen 7 armſelige Stunden uns vom<lb/>
düſtern Himmel noch um 2 verkürzt würden. Ge-<lb/>
duldig und faſt ohne es gewahr zu werden, gehen<lb/>
oder ſchleichen wir aus einem Außerſten ins andere,<lb/>
wenn wir ſtufenweiſe hineingeführt werden. Es<lb/>
iſt erſtaunlich, welche Gewöhnbarkeit in der mora-<lb/>
liſchen wie in der phyſiſchen Menſchennatur liegt,<lb/>
und was allmählige Gewöhnung über uns vermag.<lb/>
So, meine Freundin, wurden Sie der ungünſtigen<lb/>
Veränderung ihrer Kinder nicht gewahr, weil ſie<lb/>ſo allmählig kam, und durch das, was ſie nach und<lb/>
nach wurden, das Bild von dem was ſie waren,<lb/>
beinahe gänzlich in Jhnen ausgelöſcht iſt. Jch,<lb/>
die ich ſie ſeit 7 Jahren nicht ſah, und jenes Bild<lb/>
noch rein in mir trage, ſehe den unholden Kontraſt<lb/>
mit Schmerz; denn er iſt groß. Jhre Kinder ge-<lb/>
hörten zu den lieblichſten die ich je ſah. Was<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[141/0149]
geſunde Natur plötzlich in ihr Gegentheil verwan-
delte, ſo müßte der Anblick uns fürchterlich ergrei-
fen — ohngefähr ſo als wenn wir aus dem läng-
ſten Sommertage, der mit tauſend tauſend Herr-
lichkeiten geſchmückt uns anlachte, mit einemmal
in einen naßkalten ſtürmenden Dezembertag ver-
ſetzt würden, deſſen 7 armſelige Stunden uns vom
düſtern Himmel noch um 2 verkürzt würden. Ge-
duldig und faſt ohne es gewahr zu werden, gehen
oder ſchleichen wir aus einem Außerſten ins andere,
wenn wir ſtufenweiſe hineingeführt werden. Es
iſt erſtaunlich, welche Gewöhnbarkeit in der mora-
liſchen wie in der phyſiſchen Menſchennatur liegt,
und was allmählige Gewöhnung über uns vermag.
So, meine Freundin, wurden Sie der ungünſtigen
Veränderung ihrer Kinder nicht gewahr, weil ſie
ſo allmählig kam, und durch das, was ſie nach und
nach wurden, das Bild von dem was ſie waren,
beinahe gänzlich in Jhnen ausgelöſcht iſt. Jch,
die ich ſie ſeit 7 Jahren nicht ſah, und jenes Bild
noch rein in mir trage, ſehe den unholden Kontraſt
mit Schmerz; denn er iſt groß. Jhre Kinder ge-
hörten zu den lieblichſten die ich je ſah. Was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/149>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.