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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Edle großmüthige Fremde!

Ein Fremdling in diesem Lande und auf der
Erde, der an den Pforten des Ausgangs steht,
wendet sich an Sie, und vertraut Jhnen das
theuerste Kleinod an, welches die scheidende Mut-
ter nicht mit sich nehmen darf. Mein Stolz, mei-
ne Freude, mein Abgott war Seraphine. Sie
für Himmel und Erde recht zu bilden, war mein ein-
ziger Gedanke. Gott will es anders. Er fordert
mich früher zu sich. Jch betete, ich rang, ich
wollte noch nicht scheiden. Aber er fordert mich
immer lauter, ich muß scheiden von dem Engel
der mein Alles war, und der die heiße Mutter-
liebe noch so wenig empfunden -- ach und nun
muß dies Herz voll unendlicher Liebe brechen. Und
das mutterlose Kindlein muß vergehen, wenn Sie,
Großmüthige, sich seiner nicht annehmen. Jch
habe Sie im Leben nie angeredet, nur stille ferne
Zuschauerin war ich, dessen was Sie thun. Aber
voll Ehrfurcht, Liebe und heiligen Vertrauens,
wende ich mich zu Jhnen. Ja ich sterbe mit der
festen Zuversicht, daß mein Gebet bei Gott jetzt
schon erhört ist, und Sie meine Bitte erhören,



Edle großmüthige Fremde!

Ein Fremdling in dieſem Lande und auf der
Erde, der an den Pforten des Ausgangs ſteht,
wendet ſich an Sie, und vertraut Jhnen das
theuerſte Kleinod an, welches die ſcheidende Mut-
ter nicht mit ſich nehmen darf. Mein Stolz, mei-
ne Freude, mein Abgott war Seraphine. Sie
für Himmel und Erde recht zu bilden, war mein ein-
ziger Gedanke. Gott will es anders. Er fordert
mich früher zu ſich. Jch betete, ich rang, ich
wollte noch nicht ſcheiden. Aber er fordert mich
immer lauter, ich muß ſcheiden von dem Engel
der mein Alles war, und der die heiße Mutter-
liebe noch ſo wenig empfunden — ach und nun
muß dies Herz voll unendlicher Liebe brechen. Und
das mutterloſe Kindlein muß vergehen, wenn Sie,
Großmüthige, ſich ſeiner nicht annehmen. Jch
habe Sie im Leben nie angeredet, nur ſtille ferne
Zuſchauerin war ich, deſſen was Sie thun. Aber
voll Ehrfurcht, Liebe und heiligen Vertrauens,
wende ich mich zu Jhnen. Ja ich ſterbe mit der
feſten Zuverſicht, daß mein Gebet bei Gott jetzt
ſchon erhört iſt, und Sie meine Bitte erhören,

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[202/0210] Edle großmüthige Fremde! Ein Fremdling in dieſem Lande und auf der Erde, der an den Pforten des Ausgangs ſteht, wendet ſich an Sie, und vertraut Jhnen das theuerſte Kleinod an, welches die ſcheidende Mut- ter nicht mit ſich nehmen darf. Mein Stolz, mei- ne Freude, mein Abgott war Seraphine. Sie für Himmel und Erde recht zu bilden, war mein ein- ziger Gedanke. Gott will es anders. Er fordert mich früher zu ſich. Jch betete, ich rang, ich wollte noch nicht ſcheiden. Aber er fordert mich immer lauter, ich muß ſcheiden von dem Engel der mein Alles war, und der die heiße Mutter- liebe noch ſo wenig empfunden — ach und nun muß dies Herz voll unendlicher Liebe brechen. Und das mutterloſe Kindlein muß vergehen, wenn Sie, Großmüthige, ſich ſeiner nicht annehmen. Jch habe Sie im Leben nie angeredet, nur ſtille ferne Zuſchauerin war ich, deſſen was Sie thun. Aber voll Ehrfurcht, Liebe und heiligen Vertrauens, wende ich mich zu Jhnen. Ja ich ſterbe mit der feſten Zuverſicht, daß mein Gebet bei Gott jetzt ſchon erhört iſt, und Sie meine Bitte erhören,

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/210>, abgerufen am 21.11.2024.