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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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seligkeit der hellen Unschuld vorstellen, jetzt da sie
mit namenloser Liebe geliebt wird, und es aus
Demuth nicht fassen kann, daß sie es sey, die
mit dieser Liebe gemeynt ist. Seraphinen verdanke
ich den ersten Kuß, den sich Clärchen rauben lassen:
ohne das Kind hätte ich noch keinen. Ohne die
Reise mit einander, wäre der arme Bruno nie so
dreist geworden, Clärchen um ihre Liebe anzufle-
hen. Aber ihre Nähe -- ihre zarte Liebe für das
Kind -- erfüllte mein Jnneres mit brennender
Sehnsucht, dies liebende Herz für mich zu gewin-
nen. Aus der Sehnsucht blühete Hoffnung auf,
wenn ich sie anblickte, und die Erinnerung aller
ihrer Freundlichkeit gegen mich wieder erwachte.
Lisel mußte uns auf eine Stunde verlassen, als
wir in Nian waren. Dies gänzliche Alleinseyn
mit Clärchen hätte mich allzu verzagt gemacht --
aber die Unschuld in Seraphinens Gestalt ward
der Vermittler zwischen uns -- sie lieh dem blö-
den Bruno Wort und Sprache -- und Clärchen,
Clärchen sprach ohne Worte. Der Purpur ihrer
Wangen, die gesenkte Wimper, von der eine Thrä-
ne tropfte, die sich an der Schulter des seligsten

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ſeligkeit der hellen Unſchuld vorſtellen, jetzt da ſie
mit namenloſer Liebe geliebt wird, und es aus
Demuth nicht faſſen kann, daß ſie es ſey, die
mit dieſer Liebe gemeynt iſt. Seraphinen verdanke
ich den erſten Kuß, den ſich Clärchen rauben laſſen:
ohne das Kind hätte ich noch keinen. Ohne die
Reiſe mit einander, wäre der arme Bruno nie ſo
dreiſt geworden, Clärchen um ihre Liebe anzufle-
hen. Aber ihre Nähe — ihre zarte Liebe für das
Kind — erfüllte mein Jnneres mit brennender
Sehnſucht, dies liebende Herz für mich zu gewin-
nen. Aus der Sehnſucht blühete Hoffnung auf,
wenn ich ſie anblickte, und die Erinnerung aller
ihrer Freundlichkeit gegen mich wieder erwachte.
Liſel mußte uns auf eine Stunde verlaſſen, als
wir in Nian waren. Dies gänzliche Alleinſeyn
mit Clärchen hätte mich allzu verzagt gemacht —
aber die Unſchuld in Seraphinens Geſtalt ward
der Vermittler zwiſchen uns — ſie lieh dem blö-
den Bruno Wort und Sprache — und Clärchen,
Clärchen ſprach ohne Worte. Der Purpur ihrer
Wangen, die geſenkte Wimper, von der eine Thrä-
ne tropfte, die ſich an der Schulter des ſeligſten

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[321/0329] ſeligkeit der hellen Unſchuld vorſtellen, jetzt da ſie mit namenloſer Liebe geliebt wird, und es aus Demuth nicht faſſen kann, daß ſie es ſey, die mit dieſer Liebe gemeynt iſt. Seraphinen verdanke ich den erſten Kuß, den ſich Clärchen rauben laſſen: ohne das Kind hätte ich noch keinen. Ohne die Reiſe mit einander, wäre der arme Bruno nie ſo dreiſt geworden, Clärchen um ihre Liebe anzufle- hen. Aber ihre Nähe — ihre zarte Liebe für das Kind — erfüllte mein Jnneres mit brennender Sehnſucht, dies liebende Herz für mich zu gewin- nen. Aus der Sehnſucht blühete Hoffnung auf, wenn ich ſie anblickte, und die Erinnerung aller ihrer Freundlichkeit gegen mich wieder erwachte. Liſel mußte uns auf eine Stunde verlaſſen, als wir in Nian waren. Dies gänzliche Alleinſeyn mit Clärchen hätte mich allzu verzagt gemacht — aber die Unſchuld in Seraphinens Geſtalt ward der Vermittler zwiſchen uns — ſie lieh dem blö- den Bruno Wort und Sprache — und Clärchen, Clärchen ſprach ohne Worte. Der Purpur ihrer Wangen, die geſenkte Wimper, von der eine Thrä- ne tropfte, die ſich an der Schulter des ſeligſten (41)

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/329>, abgerufen am 21.11.2024.