Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 1. Leipzig, 1836.68. Die Ueberliefrung ist ein umgekehrter Fluß, Der, wie er weiter fließt, sich weiter theilen muß. Nicht Flüsse rinnen hier in einen Strom zusammen, Die aus viel Bächen und aus noch mehr Quellen stammen; Das Ganze war Ein Quell, der ward ein Doppelbach, Aus welchem Flüss' und Ström' entstanden hundertfach. Der Meister jeder Schul' und seiner Schüler Schwarm Reißt von dem Mittelleib sich los als Seitenarm. Der Arm wird selbst ein Leib, der sich in Glieder spaltet, Ein Stamm, der sich in Ast und Zweig und Blatt entfaltet. Ein Stromgeäder, das, wie es sich kraus verschlingt, Nicht kennt den Mittelpunkt, aus dem, zu dem es dringt. Das wirre Stromgeflecht, wer schlingt es ein als Meer, Und stellt im tiefen Sinn des Urquells Einheit her? Denn wie's vom Herzen kommt, zum Herzen ist sein Streben; Und daß der Blutlauf kreist, das ist des Leibes Leben. 68. Die Ueberliefrung iſt ein umgekehrter Fluß, Der, wie er weiter fließt, ſich weiter theilen muß. Nicht Fluͤſſe rinnen hier in einen Strom zuſammen, Die aus viel Baͤchen und aus noch mehr Quellen ſtammen; Das Ganze war Ein Quell, der ward ein Doppelbach, Aus welchem Fluͤſſ' und Stroͤm' entſtanden hundertfach. Der Meiſter jeder Schul' und ſeiner Schuͤler Schwarm Reißt von dem Mittelleib ſich los als Seitenarm. Der Arm wird ſelbſt ein Leib, der ſich in Glieder ſpaltet, Ein Stamm, der ſich in Aſt und Zweig und Blatt entfaltet. Ein Stromgeaͤder, das, wie es ſich kraus verſchlingt, Nicht kennt den Mittelpunkt, aus dem, zu dem es dringt. Das wirre Stromgeflecht, wer ſchlingt es ein als Meer, Und ſtellt im tiefen Sinn des Urquells Einheit her? Denn wie's vom Herzen kommt, zum Herzen iſt ſein Streben; Und daß der Blutlauf kreiſt, das iſt des Leibes Leben. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0067" n="57"/> <div n="2"> <head>68.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Die Ueberliefrung iſt ein umgekehrter Fluß,</l><lb/> <l>Der, wie er weiter fließt, ſich weiter theilen muß.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Nicht Fluͤſſe rinnen hier in einen Strom zuſammen,</l><lb/> <l>Die aus viel Baͤchen und aus noch mehr Quellen ſtammen;</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Das Ganze war Ein Quell, der ward ein Doppelbach,</l><lb/> <l>Aus welchem Fluͤſſ' und Stroͤm' entſtanden hundertfach.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Der Meiſter jeder Schul' und ſeiner Schuͤler Schwarm</l><lb/> <l>Reißt von dem Mittelleib ſich los als Seitenarm.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Der Arm wird ſelbſt ein Leib, der ſich in Glieder ſpaltet,</l><lb/> <l>Ein Stamm, der ſich in Aſt und Zweig und Blatt entfaltet.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Ein Stromgeaͤder, das, wie es ſich kraus verſchlingt,</l><lb/> <l>Nicht kennt den Mittelpunkt, aus dem, zu dem es dringt.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Das wirre Stromgeflecht, wer ſchlingt es ein als Meer,</l><lb/> <l>Und ſtellt im tiefen Sinn des Urquells Einheit her?</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Denn wie's vom Herzen kommt, zum Herzen iſt ſein Streben;</l><lb/> <l>Und daß der Blutlauf kreiſt, das iſt des Leibes Leben.</l> </lg><lb/> </lg> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [57/0067]
68.
Die Ueberliefrung iſt ein umgekehrter Fluß,
Der, wie er weiter fließt, ſich weiter theilen muß.
Nicht Fluͤſſe rinnen hier in einen Strom zuſammen,
Die aus viel Baͤchen und aus noch mehr Quellen ſtammen;
Das Ganze war Ein Quell, der ward ein Doppelbach,
Aus welchem Fluͤſſ' und Stroͤm' entſtanden hundertfach.
Der Meiſter jeder Schul' und ſeiner Schuͤler Schwarm
Reißt von dem Mittelleib ſich los als Seitenarm.
Der Arm wird ſelbſt ein Leib, der ſich in Glieder ſpaltet,
Ein Stamm, der ſich in Aſt und Zweig und Blatt entfaltet.
Ein Stromgeaͤder, das, wie es ſich kraus verſchlingt,
Nicht kennt den Mittelpunkt, aus dem, zu dem es dringt.
Das wirre Stromgeflecht, wer ſchlingt es ein als Meer,
Und ſtellt im tiefen Sinn des Urquells Einheit her?
Denn wie's vom Herzen kommt, zum Herzen iſt ſein Streben;
Und daß der Blutlauf kreiſt, das iſt des Leibes Leben.
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