Sieh, wie das Räuplein auf dem schwanken Blatte geht, Das Köpfchen her und hin nach seinem Futter dreht!
Wenn es ein Hauch berührt, wenn einen Feind es spürt, Schnell wirfts ein Seil aus, das es immer bei sich führt.
Aus seinem Leibe spinnt es selber sich das Seil, Wo's Noth thut, und daran hängt seines Lebens Heil.
Am Seile selbstgewebt, sieh, wie's hernieder schwebt, Ohne zu fallen hängt, und wieder sich erhebt!
Was sein Bedürfnis heischt zur Sicherheit und Nahrung, Hat es sein Trieb gelehrt, nicht Kunst und nicht Erfahrung.
Hätt' einen solchen Strick in jedem Augenblick Der Tänzer auf dem Seil', nie bräch' er sein Genick.
Wol wandelt wie die Raup' auch er auf schwankem Steig, Und in den Lüften sucht er seinen Nahrungszweig.
Doch treibt der Vorwitz ihn, das Räupchen die Natur, Drum schwebt er in Gefahr, und es ist sicher nur.
104.
Sieh, wie das Raͤuplein auf dem ſchwanken Blatte geht, Das Koͤpfchen her und hin nach ſeinem Futter dreht!
Wenn es ein Hauch beruͤhrt, wenn einen Feind es ſpuͤrt, Schnell wirfts ein Seil aus, das es immer bei ſich fuͤhrt.
Aus ſeinem Leibe ſpinnt es ſelber ſich das Seil, Wo's Noth thut, und daran haͤngt ſeines Lebens Heil.
Am Seile ſelbſtgewebt, ſieh, wie's hernieder ſchwebt, Ohne zu fallen haͤngt, und wieder ſich erhebt!
Was ſein Beduͤrfnis heiſcht zur Sicherheit und Nahrung, Hat es ſein Trieb gelehrt, nicht Kunſt und nicht Erfahrung.
Haͤtt' einen ſolchen Strick in jedem Augenblick Der Taͤnzer auf dem Seil', nie braͤch' er ſein Genick.
Wol wandelt wie die Raup' auch er auf ſchwankem Steig, Und in den Luͤften ſucht er ſeinen Nahrungszweig.
Doch treibt der Vorwitz ihn, das Raͤupchen die Natur, Drum ſchwebt er in Gefahr, und es iſt ſicher nur.
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104.
Sieh, wie das Raͤuplein auf dem ſchwanken Blatte geht,
Das Koͤpfchen her und hin nach ſeinem Futter dreht!
Wenn es ein Hauch beruͤhrt, wenn einen Feind es ſpuͤrt,
Schnell wirfts ein Seil aus, das es immer bei ſich fuͤhrt.
Aus ſeinem Leibe ſpinnt es ſelber ſich das Seil,
Wo's Noth thut, und daran haͤngt ſeines Lebens Heil.
Am Seile ſelbſtgewebt, ſieh, wie's hernieder ſchwebt,
Ohne zu fallen haͤngt, und wieder ſich erhebt!
Was ſein Beduͤrfnis heiſcht zur Sicherheit und Nahrung,
Hat es ſein Trieb gelehrt, nicht Kunſt und nicht Erfahrung.
Haͤtt' einen ſolchen Strick in jedem Augenblick
Der Taͤnzer auf dem Seil', nie braͤch' er ſein Genick.
Wol wandelt wie die Raup' auch er auf ſchwankem Steig,
Und in den Luͤften ſucht er ſeinen Nahrungszweig.
Doch treibt der Vorwitz ihn, das Raͤupchen die Natur,
Drum ſchwebt er in Gefahr, und es iſt ſicher nur.
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Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 3. Leipzig, 1837, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane03_1837/102>, abgerufen am 22.02.2025.
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